Die Bettelprophetin
jedem Erinnern noch heftiger auf ihren Wangen, bis sie die Erkenntnis traf wie ein Blitzschlag: Sie hatte sich verliebt. Sie liebte einen Pfarrer, dem die Kirche verbot, auch nur an Frauen und an die Liebe zu denken!
Im Juni wurde plötzlich das Königreich Württemberg zum Schauplatz der revolutionären Ereignisse – oder dem, was davon noch übrig war. Die Reste der Nationalversammlung, dieses ersten freigewählten Bürgerparlaments, wurden von Frankfurt nach Stuttgart verlegt. Dort stellte man eine fünfköpfige provisorische Regentschaft für ganz Deutschland auf, rief zuSteuerverweigerung und bewaffnetem Widerstand gegen die Staaten auf, die die neue Reichsverfassung nicht anerkannten, und provozierte damit den württembergischen König zum Angriff: Wilhelm befahl den selbsternannten Regenten, Stuttgart zu verlassen. Als die sich weigerten, schlugen seine Soldaten die Einrichtung des Sitzungssaals kurz und klein und trieben die Abgeordneten auf die Straße, wo die Stimmung hochzukochen drohte. Erst eine Reiterstaffel mit ihren Bajonetten vermochte den Tumult zu beenden.
Als Theres hiervon hörte, konnte sie nur an eines denken: wie es wohl Sophie im fernen Stuttgart ging. Sie hatte die dumpfe Ahnung, dass sich ihrer beider Lebenswege für immer getrennt hatten. Dies machte ihr weitaus mehr zu schaffen als die Nachricht wenig später, dass mit dem Sieg über die badischen Freischärler die deutsche Revolution endgültig gescheitert war. In ihrer Verbannung auf dem Einödhof bekam sie wenig davon mit, wie Zensur und Versammlungsverbot, körperliche Züchtigung und Todesstrafe wieder eingeführt wurden und dabei halfen, überall in Deutschland Friedhofsruhe zu verbreiten.
Der Kreis um Theres und den Voglerhof erfuhr zu diesem Zeitpunkt einen ungeahnten Aufschwung. Obwohl Patriz Seibold aus dem fernen Rottenburg weiterhin riet, sich ruhig zu verhalten und die Betstunden und Andachten auf den Hof zu beschränken, allein schon Theres wegen, strömten im Sommer immer mehr Menschen zu ihnen. Getragen wurde dieser Umschwung zu einem Gutteil durch die Eheleute Herb und Madame Valier, die mit einem Häufchen Getreuer durch die Gegend zogen und um Anhänger warben.
Bald blieb es nicht bei den häuslichen Gebeten. Die Herbs hielten Rosenkränze unter freiem Himmel ab, unternahmenBittprozessionen und Wallfahrten nach Weingarten oder zur Guten Beth nach Reute. Immer häufiger wurden sie in die Dörfer rundum eingeladen, um dort in Privathäusern für die Freilassung und Rückkehr Seibolds zu beten. Längst hatte die Gruppe ihren Namen weg. Theresianer wurden sie genannt und waren den Gemeinderäten und Kirchendienern mehr als ein Dorn im Auge.
Vor allem Klementine Herb in ihrem Eifer und Madame Valier mit ihrer hohen Stimme brachten die Gläubigen dazu, so voller Inbrunst zu singen und zu beten, dass mehr als einmal aufgebrachte Nachbarn in die Häuser drangen, um für Ruhe zu sorgen. Das allerdings wusste Theres nur vom Hörensagen, denn nach wie vor hütete sie sich, die Gemarkung des Einödhofes zu verlassen. Einmal im Hochsommer, in einem Dorf nach Wangen zu, hatten die Frauen den dritten Abend in Folge ihre Andacht abgehalten, als ein gutes Dutzend Männer das Haus stürmte, darunter Gemeinderäte und vornehme Bürgersleute, und sie mit Maulschellen und Stockhieben attackierte. Als schließlich der Schultes erschien, sperrte er die Theresianer über Nacht in eine Kammer seines Amtshauses, um sie, wie er versicherte, vor Schlimmerem zu schützen.
Von da an hielt Theres sich mehr und mehr zurück. Sie spürte, wie etwas in ihrer Anhängerschaft, die sich um den Voglerhof scharte, aber auch in ihr selbst aus dem Gleichgewicht geriet. All das hatte nichts mehr mit ihr oder Pfarrer Seibold zu tun. Der Glauben gab den Menschen nicht etwa Halt, sondern das Gegenteil war der Fall. Wie in einem Rausch zelebrierten sie ihre religiösen Riten, und jede Äußerung von Theres, jedes Gespräch mit ihr saugten sie auf, als sei sie eine Erleuchtete. Sie begann den Andachten fernzubleiben und verrichtete ihre Gebete stattdessen in einer einsamen Feldkapelle. Doch je mehr sich Theres zurücknahm, desto mehr Anziehungskraft schiensie auszuüben. Pauline hatte sogar ihre Stellung in Weissenau aufgegeben und arbeitete nun bei Metzler als Viehmagd – nur um ihr näher zu sein! Dabei hätte Theres sich am liebsten ganz an einen stillen Ort zurückgezogen, um auf Seibolds Rückkehr zu warten, den sie jeden Tag noch schmerzlicher
Weitere Kostenlose Bücher