Die Bettelprophetin
inzwischen sein Amtsnachfolger Quirinius Fink eingezogen. Das war aber auch schon das Einzige, was sie in Erfahrung hatte bringen können. Sowohl Spitalvater als auch sämtliche Aufseher schwiegen hartnäckig, wenn Theres sie nach dem Pfarrer oder den Leuten vom Voglerhof fragte.
Als sie nun an diesem Sonntagabend durch die Gassen der Unterstadt ins Bruderhaus geführt wurde, wie eine Zuchthäuslerin in Handfesseln und mit heruntergezogener Kapuze, konnte sie sich denken, warum dies bei Dunkelheit geschah: Man wollte Aufsehen vermeiden. Kaum war nämlich bekannt geworden, dass Theres Ludwig mit Gewalt vom Voglerhof entführt worden war, hatte es überall lautstarke Proteste gegeben, auch hier in der Stadt. Die Sprechchöre draußen vor dem Spitalstor jeden Tag nach Feierabend, das Getöse mit Kochlöffeln auf Töpfen und Deckeln waren zwar leiser geworden, aber offenbar wollte man auf Nummer sicher gehen. Das Bruderhaus war weitaus besser zu bewachen als das Spital, in dem jeder aus und ein ging, wie er wollte.
Entmutigt stolperte sie zwischen ihren beiden stummen Bewachern, zwei großen, kräftigen Männern, durch die feuchtkalteNacht. Auch ihnen war offenbar verboten, mit ihr zu sprechen. Aber sie wusste ohnehin, was sie erwartete. In den Trakt der Zwangseingewiesenen würde man sie stecken, zu den Obdachlosen und Gaunern und käuflichen Dirnen. Man würde sie Tag und Nacht unter polizeiliche Aufsicht stellen und sie ohne jeglichen Lohn die niedersten, schmutzigsten Arbeiten verrichten lassen.
«Himmelsakra, jetzt heb schon deine Füß», fluchte der eine, der Jüngere. «Glaubst, wir tragen dich?»
Auf ein Klopfzeichen hin öffnete sich kurze Zeit später eine Nebenpforte des Bruderhauses.
«Vorwärts!» Der Jüngere stieß sie hinein in einen dunklen Flur, nahm eine Lampe vom Wandhaken und zündete sie an.
«Lass nur, Franz. Ich bring sie rüber», sagte der andere, der wesentlich älter wirkte. «Kannst zu Bett gehen.»
Theres stutzte. Woher nur kannte sie diese Stimme? Nachdem der Jüngere im schwachen Schein der Lampe hinter einer der Türen verschwunden war, ließ ihr Bewacher sie los und hob das Licht zwischen sie. Sie erstarrte: Der Mann betrachtete sie in einer Mischung aus Neugier und Ehrfurcht – mit einem einzigen Auge! Anstelle des andern Auges war nichts als ein schwarzer Fleck.
«Urban?» Es war der alte Knecht aus dem Vagantenkinderinstitut.
«Pst!» Er legte einen Finger an seine Lippen. «Es braucht niemand zu wissen, dass wir uns kennen. Hab keine Angst, Theres. Der Metzlerbauer wird dich hier rausholen, in ein, zwei Wochen schon. Und jetzt komm.»
Ende November war es so weit. Urban hatte ihr beim Mittagessen mit der Hand ein Zeichen gegeben. Sie verstand, dass sie sich bereithalten sollte. An diesem Nachmittag war sie zusammenmit einer Gruppe von Frauen abkommandiert zu Pflasterarbeiten in der neuen Seevorstadt. Der Zeitpunkt war gut gewählt: Urban führte die Aufsicht über die Frauen, und draußen herrschte dicker Nebel, der sich an solchen Tagen über das ganze Schussental legte wie ein zäher, hellgrauer Brei.
Jede Faser ihres Körpers war gespannt, während sie wenig später die Steine auf den vorbereiteten Grund platzierte. Bei den Arbeitseinsätzen durfte nicht gesprochen werden, und so fiel es Theres leicht, auf die Geräusche in den Nebelschwaden rundum zu achten. Lange Zeit hörte man nichts als das Scharren der Pflastersteine auf dem sandigen Untergrund, nur hin und wieder unterdrücktes Stöhnen, wenn eine der Frauen sich aufrichtete und vorsichtig den Rücken geradebog. Als einmal die Karre mit den Steinen unter lautem Gepolter umstürzte, schrak Theres so heftig zusammen, dass sie aufschrie und Urban ihr mit seinem einen Auge einen vorwurfsvollen Blick zuwarf.
Fast schon hatte sie alle Hoffnung fahren lassen, als aus Richtung des Gasthofs
Kronprinz
Hufgetrappel herüberklang, gefolgt von einem kurzen Pfiff. Dann bemerkte sie so etwas wie einen Schatten hinter dem abgestellten Fuhrwerk des Straßenbauamts. Sie sah hinüber zu Urban, der nickte fast unmerklich.
Keine Viertelstunde später klatschte er laut in die Hände. «Die letzten Steine gesetzt und aufräumen!»
Bedächtig verarbeitete Theres das Häufchen Steine neben sich, richtete sich auf und griff nach ihrem leeren Korb. Ganz unwillkürlich machte sie sehr langsam, warf als letzte der Frauen ihren Korb auf die Ladefläche. Die Gestalt hinter dem Wagen war vom Nebel verschluckt.
«In einer Reihe
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