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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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meine These, dass in einem kranken Körper ein kranker Geist steckt.» Er lächelte. «Nun, du hingegen siehst mir ganz gesund aus, wenngleich ziemlich mager. Aber untersuchen muss ich dich von Amts wegen dennoch. Ob du nämlich zwei Jahre Arbeitshaus durchhältst – geistig wie körperlich.»
    «Zwei Jahre?»
    Theres hielt den Atem an.
    «Ganz recht. Zwei Jahre.»
    Wie hinter einer Glasscheibe sah sie, dass er dem Bürgermeister einen Wink gab, woraufhin der die Zelle verließ. Sah, wie der Doktor eine schwarze Ledertasche öffnete, verschiedene Instrumente herauszog und auf ein Tuch legte. Hörte ihn von weit her sagen: «Los geht’s. Setz dich hier auf den Schemel und sperr den Mund auf.»
    Da begann es hinter ihren Schläfen zu tosen.
    «Ich will nicht», stieß sie hervor.
    «Was soll das? Setz dich endlich hin.»
    «Ich geh nicht ins Arbeitshaus.» Der Schwindel und das Rauschen wurden heftiger. Sie ließ sich zu Boden fallen.
    «Herr im Himmel – was für ein Affentanz!»
    Der Amtsarzt packte sie beim Arm, um sie in die Höhe zu zerren, aber Theres schlug so wild um sich, dass er sie nicht zu fassen bekam.
    «Weg!», schrie sie. «Verschwinden Sie! Weg, weg!»
    Sie riss sich die Holzpantinen von den Füßen und warf sie nach ihm.
    «Zu Hilfe!» Der Mann stürzte zur Tür, die sich im selben Moment öffnete. Bürgermeister, Amtsbote und Polizeidiener drängten so schnell herein, wie der alte Amtsarzt draußen war.
    Doch Hilfe war gar nicht mehr nötig. Ganz ruhig lehnte Theres an der Wand, der Blick aus ihren dunklen Augen wirkte sanft.
    «Wenn Sie mich nach Rottenburg bringen», sagte sie leise, «mach ich’s wie der Urle. Ich stürz mich vom Dach in den Tod.»
     
    Zwei Polizeidiener brachten sie in einem strammen dreistündigen Fußmarsch nach Norden, wo die Gemarkung von Waldsee begann. Noch einen Tag und eine Nacht hatte sie in der Arrestzelle verbringen müssen und dabei ein Gespräch belauscht zwischen Bürgermeister, Amtsarzt und einigen fremden Stimmen, die offenbar zu wichtigen Männern aus dem Oberamt Ravensburg gehörten. «In der augenblicklichen Lage wäre es höchst kontraproduktiv, eine Selbsttötung der Ludwig zu riskieren. Man stelle sich nur vor: Da erst recht hätte das Volk seine Heilige, seine Märtyrerin.» – «Sie haben recht. Das Beste wäre es, die Ludwig auf immer wegzuschaffen, genau wie denPfaffen. Dann schläft dieses ganze Weissenauer Kaschperltheater mit Sicherheit bald ein.»
    Am frühen Morgen hatte man sie in die Amtsstube geholt. Man sei übereingekommen, ihr als Zeichen der Milde das Arbeitshaus zu erlassen und sie stattdessen auf Lebenszeit aus dem Oberamt Ravensburg zu verweisen. Allerdings sei ihr gegen Zuchthausstrafe verboten, Kontakt mit Patriz Seibold sowie zu den Theresianern aufzunehmen.
     
    «Und jetzt verschwind, wie es dir aufgetragen ist», herrschte der ältere der beiden Polizeidiener sie an, als sie bei dem Grenzstein innehielten. Er löste ihre Fesseln. Dabei flüsterte er ihr ins Ohr: «Behüt dich Gott, Theres Ludwig. Meine Familie und ich beten für dich!»
    «Danke», gab sie leise zurück. Sie sah den beiden nach, wie sie hügelaufwärts im Grau dieses Apriltages verschwanden. Dann überquerte sie die Straße bis zu einem Wegkreuz. Sie schob die Kapuze ihres Umhangs in den Nacken, hielt die Stirn in den Nieselregen und wiederholte ihr «Danke!», kniete nieder und betete mit gesenktem Kopf den Rosenkranz. Sie spürte, wie jemand sie betrachtete, und als sie nach dem Gebet aufsah, erkannte sie: Es war der Heiland unter dem verwitterten Holzdach, der aus halbgeöffneten Augen den Blick genau auf sie gerichtet hielt. Auf seinen Lippen lag der Anflug eines Lächelns. Dasselbe milde Lächeln, wie es der in hellem Holz geschnitzte Jesus Christus in der Weissenauer Pfarrstube zeigte.
    Sie dachte daran, wie Patriz ihr einmal mit verlegenem Lachen gestanden hatte, dass er sich in schwierigen Lebenslagen mit seinem Jesus Christus besprach, mit halblauter Stimme und wie von Mann zu Mann. Das war nach ihrem innigen Kuss gewesen, jenem einzigen Moment der Leidenschaft zwischen ihnen, der Jahre her zu sein schien und doch so nah, dass er inihr noch immer loderte. Sie hatten einander erst losgelassen, als in der Nähe Menschenstimmen zu hören waren. Patriz hatte ihr aufgeholfen und die Eiskristalle von ihrem Umhang geklopft, und sie hatten sich wieder auf den Weg zur Mühle gemacht. Wortlos und auch ein wenig befangen waren sie nebeneinander hermarschiert, bis

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