Die Bettelprophetin
malerisch gelegenen Waldsee, den sie erst auf den zweiten Blick als den Truchsessenweiher erkannte, jenen Weiher ihrer Kindheit im Vagantenkinderinstitut. Dort drüben ging der Pfad ins Unterholz, wo sie, Sophie und Paulineeinst ihren Lehrer mit der Magd beim heimlichen Stelldichein ertappt hatten. Und den Hauptweg ein Stückchen weiter lag die Gartenwirtschaft, wo Urle ihr von seinem Plan erzählt hatte, eines Tages auszuwandern, mit einem großen Schiff übers Meer zu segeln bis nach Amerika und sich dort als Kolonist niederzulassen.
Sie spürte, wie bei dem Gedanken an ihre Kindheit und an Urle ihre Augen feucht wurden. Rasch wandte sie den Blick ab von dem stillen Idyll und stapfte mit gesenktem Kopf zurück auf das Sträßchen, das in Richtung ihrer einstigen Heimat führte, nach Altdorf und dem Weingartner Waisenhaus. Noch einmal sah sie zurück – da prallte sie gegen etwas Weiches und schrie auf vor Schreck.
Es war die Brust eines kräftigen jungen Burschen, der jetzt von einem Ohr zum andern zu grinsen begann. Hinter ihm weidete ein struppiges Pferd den Wegrain ab.
«Dass mich der Blitz erschlag! Wenn du nicht die Theres Luwig bist!»
Theres wollte losrennen und fiel stattdessen der Länge nach hin, mitten in den Matsch der Straße. Der Mann hatte ihr ein Bein gestellt! Jetzt half er ihr auf, wobei er ihr – ruck, zuck!– die Hände auf dem Rücken gefesselt hatte.
«Was soll das? Lassen Sie mich los.»
«Da wär ich schön blöd! Das Oberamtsgericht hat eine Belohnung auf deinen Kopf gesetzt. Zwanzig Gulden krieg ich, wenn ich dich abliefere. Und weißt, was das Beste ist?» Er rieb sich die Hände. «Bin grad auf dem Weg nach Grünkraut. Jemand hat nämlich dem Gericht zugesteckt, dass du heut dort anzutreffen wärest, beim Gottesdienst mit diesen ganzen andern Verrückten. Ein halbes Landjägercorps lauert dir dort auf, und mir läufst hier im Wald gradwegs in die Arme, wo ich absteig und pinkeln will! Das ist wie ein Lotteriegewinn.»
Er stieß sie vorwärts in Richtung Pferd, wo er das andere Ende des Stricks an den Sattelknauf band.
«Ab jetzt, nach Altdorf. Dort wird man schön glotzen!»
Eine Stunde später erreichten sie das einstige Kloster, hinter dessen Mauern sie so viele Jahre verbracht hatte. Fast als ob sich der Kreis jetzt schließen würde, schoss es ihr durch den Kopf, als sie neben dem Pferd her die steile Straße hinunter nach Altdorf stolperte. Und tatsächlich stand in der Tür des Rathauses derselbe griesgrämige Mann wie damals bei ihrer Ankunft, nur war er jetzt zwanzig Jahre älter und hatte schlohweißes Haar.
«Ich bring euch die Theres Ludwig.» Mit stolzer Brust stieß ihr Begleiter sie über die Schwelle. Dann streckte er die Hand aus. «Meine zwanzig Gulden.»
«Von mir kriegst gar nix, Kerl.» Der Amtsbote nahm ihm den Strick aus der Hand. «Komm morgen wieder, wenn der Bürgermeister da ist.»
Er wandte sich Theres zu, mit ungläubigem Kopfschütteln. «Dass ich dir nochmal begegne, hätt ich nicht gedacht. Bist ja eine wahre Berühmtheit geworden.»
«Machen Sie mich sofort los. Sie dürfen mich gar nicht festhalten. Ich bin Bürgerin von Thaldorf.»
Der Amtsbote lachte verächtlich. «Das interessiert kein Schwein. Gegen dich liegt ein Haftbefehl vor, weil du nämlich ins Zuchthaus sollst. Und jetzt verbringst erst mal eine Nacht in unserem netten kleinen Arrestzimmer.»
Das mit dem Zuchthaus war gelogen, wie sich am nächsten Tag herausstellte. Man werde sie ins Arbeitshaus nach Rottenburg überbringen, auf Geheiß des Ravensburger Oberamtsgerichts, verkündete ihr der Bürgermeister. Doch ob Zuchthaus oderArbeitshaus war für Theres einerlei. Nie wieder würde sie sich hinter Mauern einsperren lassen!
Mit dem Bürgermeister war ein Amtsarzt namens Walther erschienen – derselbe Mann, der bei schweren Fällen auch bei ihnen im Vagantenkinderinstitut nach dem Rechten gesehen hatte. Wieder war es Theres, als sei die Zeit stehengeblieben.
«Das also ist unser Fräulein Ludwig, die selbsternannte Prophetin von Weissenau.»
Sie stand mitten im Raum. Der schmächtige Medicus betrachtete sie durch seine dicke Brille von allen Seiten wie ein merkwürdiges Insekt.
«Warum haben Sie meinem Freund Urle damals gesagt, dass er nicht mehr lang leben würde?», fragte sie ihn ohne Umschweife.
«Was redest du da? Was für ein Urle?»
«Er hatte sich vom Dach gestürzt. Im Waisenhaus.»
«Ach herrje, der Zwerg! Ich erinnere mich. Der beste Beweis für
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