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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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ein.
    Er schüttelte heftig den Kopf. «Nirgendwo in der Bibel steht diese Forderung geschrieben. Die Apostel Jesu und die Lehrmeister der Urchristen waren verheiratet. Erst im Mittelalter wurde das Zölibat zur Pflicht – die Orthodoxen und später die Evangelischen haben es für ihre Pfarrer nie übernommen.»
    Er schwieg für eine Weile, und Theres fragte sich, ob sie ihre Hand wegziehen sollte. Vielleicht war Patriz Seibold so in Gedanken versunken, dass er es gar nicht bemerken würde?
    «Manchmal frag ich mich», sagte er unvermittelt, «ob es nicht besser wäre, auszuwandern. Nach Amerika, wo das Denken freiheitlicher ist, auch in Kirchendingen.»
    «Auswandern?», fragte sie erschrocken. «Sie würden wirklich weggehen nach Amerika?»
    «Ich weiß nicht – ich denke immer häufiger daran. Vielleicht wäre es wirklich das Beste, für den Fall, dass der König mich nicht anhört.»
    Mit einem Ruck entriss sie ihm die Hand und lief los. So eilig, dass sie auf dem eisigen Weg, der jetzt auf der Schattenseite des Hügels bergab führte, beinahe ausgerutscht wäre. Ihm lag also überhaupt nichts an ihr! Er hatte sie nur benutzt!Benutzt, um noch mehr treue Schäfchen um sich zu sammeln. Und jetzt, wo ihm das Wasser bis zum Hals stand, wollte er auswandern.
    «Theres! So warte doch! Was ist mit dir?»
    Sie hörte seine Schritte, wurde noch schneller. Da bekam er sie bei der Schulter zu fassen, ihre Füße schlitterten übers Eis, sie geriet aus dem Gleichgewicht, er mit ihr, und zusammen rutschten sie ein Stück weit hangabwärts bis in eine Schneewehe.
    «Hast du dich verletzt?»
    «Nein.»
    Er hielt sie im Arm fest. «Ich hatte nicht fertig gesprochen. Ich   … ich würde nicht ohne dich gehen wollen.»
    Sein Gesicht stand jetzt so dicht vor ihrem, dass sie die Hitze seiner Wangen spüren konnte. Ganz deutlich sah sie die gezackte Narbe über seiner Braue, die silbernen Strähnen an seinen Schläfen, das helle Blau seiner Augen und in deren Mitte das große dunkle Rund, in dem sie sich selbst erkannte.
    Dann strich er ihr das nasse Haar aus der Stirn, flüsterte: «Bleib bei mir, für immer», küsste sie auf die Stirn, auf die Wangen, auf den Hals und endlich, zart und vorsichtig, auf die Lippen.
    Sie unterdrückte ein Seufzen, als sie ihn sagen hörte: «Ich liebe dich doch, Theres!», öffnete ihre Lippen mit einem nie zuvor verspürten Schauer am ganzen Körper und ließ ihn ein zu einem Kuss voller Zärtlichkeit und Leidenschaft zugleich.

30
    Die letzte Reise, Frühjahr/​Sommer 1850
    Geliebte Theres!
    Ich hoffe, dieser Brief erreicht dich bald. Ich schicke ihn dem Metzlerbauern, er weiß am ehesten, wo du dich aufhältst. Und ihm kann ich trauen.
    Mit Gottes Hilfe werden wir uns bald schon wiedersehen. Geh nach Ringschnait zu Pfarrer Konzet, er ist eingeweiht. Sicherheitshalber verrate niemandem etwas von unseren Plänen und suche dir ab sofort deine Unterkünfte selbst – am Voglerhof scheint es eine undichte Stelle zu geben! Aus verlässlicher Quelle habe ich erfahren, dass man dich wieder ins Correctionshaus nach Rottenburg bringen will, sei also äußerst vorsichtig. Auch mir stellt man wohl wieder nach.
    Meinem Bruder geht es inzwischen bedeutend besser, und ich werde in den nächsten Tagen ebenfalls zu Konzet aufbrechen. Von dort reisen wir dann gemeinsam nach Stuttgart, wo du erst einmal in Sicherheit bist.
    Falls es deiner Freundin Sophie und ihrem Mann nicht gelegen kommt, können wir auch bei der deutsch-katholischen Gemeinde unterkommen, zu der ich mittlerweile Kontakt aufgenommen habe.
    Liebe Theres – trotz meiner vielen Zwiegespräche mit Gott weiß ich noch immer nicht, was er davon hält, dass ich Priester und Liebender zugleich bin. Andrerseits: Gott wird nicht ohne Grund uns Menschen in zweierlei Gestalt geschaffen haben, als Mann und als Frau.
    Ich denke jedenfalls Tag und Nacht an dich und kann unser Wiedersehen kaum erwarten. In inniger und dankbarer Liebe, dein Patriz.
     
    Theres legte den Brief an ihre Wange und schloss die Augen. Zwei Monate war es nun schon her, dass sie sich bei jener Sägmühle zum letzten Mal gesehen hatten – zwei Monate mit fast täglichen Ortswechseln und dieser wachsenden Unruhe, die ihr nachts den Schlaf raubte. Dabei war es am Ende weniger die Angst, geschnappt und eingesperrt zu werden, als vielmehr, immer so weiterleben zu müssen. Doch die Liebe, die Patriz ihr so freimütig offenbart hatte, gab ihr jeden Morgen frische Kraft und ließ sie bei

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