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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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der Postkutsche reichen würde.
    Vielleicht gibt es ja auch bei uns eines Tages Eisenbahnen mit Dampfkraft, solche wie in England, mit denen man blitzesschnell
von einem Ort zum andern kommt
, entzifferte sie unter Tränen seine klar und ordentlich gesetzten Buchstaben.
Aber bis dahin schreib mir nur fleißig, meine liebe, liebe Schwester, ich werde jeden deiner Briefe beantworten. Und mach dir keine Sorgen: Wenn ich Glück habe, bekomme ich bald eine Anstellung als Dorfschreiber. Denn mit meinem verkrüppelten Fuß bin ich dem alten Sklaventreiber gänzlich nutzlos geworden.
    Im Frühjahr verließ Rosina das Institut, um auf einem dieser reichen, einsamen Höfe im Oberland als Magd zu beginnen, bald darauf folgte Jodok. Statt seiner übernahm Bartlome die Führerschaft unter den Buben, und von Jodok hörte man nur noch, dass er sich mit einem Lehrherrn nach dem andern überwarf. Wendelin Löblich verließ ebenfalls das Institut, nachdem er die zweite Dienstprüfung vom Hilfs- zum Unterlehrer nicht bestanden hatte.
    Über all diesen großen und kleinen Ereignissen verging die Zeit. Es hatte Wochen und Monate gebraucht, bis Theres den Innenhof durchqueren konnte, ohne dass ihr bei jedem Flügelschlag einer Taube das Herz stehenblieb. Jedes Mal hatte sie dann den Kopf in die Höhe gerissen und den Schatten von Urles plumpen Körper auf sich niederstürzen sehen. Bis Urle ihr eines Nachts im Traum erschienen war. Sie brauche keine Angst mehr zu haben, dass er vom Himmel falle, hatte er ihr gesagt. Er sei jetzt angekommen und quäle sich nicht mehr. Da wurde der Schmerz über seinen Tod allmählich erträglicher.
    Nur an jedem Königsgeburtstag sollte er wieder über sie hereinbrechen, und sie betete an diesem Tag nur für Urle und dessen Seelenheil. Dann merkte sie, dass wieder ein Jahr vergangen war.

Teil 2
    Bittet, so wird euch gegeben. Suchet, so werdet ihr finden. 

7
    Im Pfarrhaus bei Biberach, Frühjahr 1838
    «Bist du bereit, Theres?»
    «Ja, Herr Oberinspektor.»
    Die beiden Freundinnen umarmten sich ein letztes Mal, dann griff Theres nach ihrem Reisesack und folgte Gustav Rieke hinüber zum Tor. Sie wagte nicht, sich noch einmal umzudrehen zu Sophie, die gewiss auf der Treppe stand und ihr nachwinkte, denn dann würde sie nur zum hundertsten Male an diesem Morgen in Tränen ausbrechen. Dabei hatte sie sich schon die letzten drei Nächte in den Schlaf geheult. Und Sophie auch, das hatte sie genau gespürt.
    Für ihre Freundin ging die Zeit in Weingarten ebenfalls zu Ende. Ökonomieverwalter Georg Boller würde Sophie morgen hinüber nach Tettnang bringen, wo sie ihren Gesindedienst in einem Bürgerhaushalt antreten sollte. Gestern erst, am Palmsonntag, hatten sie beide ihre Firmung gefeiert. Nun seien sie durch die Kraft des Heiligen Geistes fest in Christus verwurzelt und endgültig im Schoße der Kirche, in der Gemeinschaft der Gläubigen, aufgenommen, wie ihnen der Weihbischof mit Glanz in den Augen verkündet hatte. Doch für Theres bedeutete dies nichts anderes als einen Abschied, denn Konfirmation und Firmung – je nach Konfession – waren für alle Zöglinge der unverrückbare Zeitpunkt, hinaus in die Arbeitswelt zu treten.
    Für die Knaben kümmerte sich die Anstaltsleitung um Lehrstellenbei hiesigen Meistern, für die Mädchen um eine Stellung im Gesindedienst, ins nahe Ravensburger Bruderhaus wurden die Kranken und Behinderten gebracht. Nur einige wenige blieben hernach noch im Institut, als Knecht oder Magd oder aber, wie Jodoks alter Kumpan Bartlome, als Schüler: Zum Erstaunen aller war er nämlich in die unter Rieke gegründete Präparandenanstalt aufgenommen worden und würde damit bald selbst Lehrer sein.
    Längst hatten die Abgänger der Waisenschule einen guten Ruf bei den Meistern und Dienstherren und wurden gerne genommen, was allein das Verdienst von Gustav Rieke war. Der ließ es sich nicht nehmen, seine Zöglinge höchstselbst oder durch seinen Vertreter Georg Boller auf den Weg in ihren neuen Lebensabschnitt zu begleiten und nicht etwa, wie früher, einen der Knechte damit zu beauftragen. Wer von Rieke statt von Boller begleitet wurde, durfte dies durchaus als Auszeichnung sehen, und Theres konnte sich diese Ehre nur mit ihren Schul- und Industrieprämien erklären, die, von Rieke als Anreiz eingeführt, auch ihr im letzten Jahr für ihre guten Leistungen zuerkannt worden waren.
    Unterhalb des Kirchplatzes wartete bereits ihre Kutsche. Theres nestelte sich den Umhang zu und wischte

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