Die Bettelprophetin
gutaussehender Mann, sehr gepflegt mit seinem hellen Gehrock und dem glattrasierten Gesicht. Warum wohl hatte er keine Frau? Vielleicht ließ ihm die Arbeit im Institut keine Zeit, eine Familie zu gründen. Einen anderen Grund konnte sie sich nicht vorstellen.
Sie strich über den Geldbeutel unter ihrem Umhang. Einen wahren Schatz enthielt er: zwei Gulden und eine Handvoll Kreuzer, mehr als der Monatslohn einer Magd. Ein Viertel ihres Sparhafens nämlich war ihr, wie allen anderen Zöglingen, beim Abschied ausbezahlt worden. Der Rest kam auf ein Sparkonto der Ravensburger Oberamtssparkasse, auf das auch ihr Verdienst aus ihrer Gesindezeit fließen sollte.
«Ein hübsches Sümmchen hast du dir beiseitegelegt», sagte Rieke mit einem Lächeln. «Halte es nur gut zusammen.»
Theres begann ebenfalls zu lächeln. Sie wusste genau, wofür sie ihren kleinen Reichtum verwenden würde: Sie wollte endlich ihren Bruder besuchen, den sie nie wieder gesehen hatte. Von Rieke nämlich hatte sie erfahren, dass ihr als Dienstmagd freie Tage zustanden, und von Biberach aus war es nicht mehr gar so weit hinauf auf die Alb. Und noch etwas hatte sie sich fest vorgenommen: Sie wollte alles über das Schicksal ihrer Mutter herausfinden, an die sie in den letzten Monaten immer häufiger hatte denken müssen. Tief in ihrem Herzen spürte sie, dass sie noch am Leben war.
«Das ist die Theres Ludwig, mein lieber Herr Konzet. Ich bin mir sicher, Sie werden mit ihr zufrieden sein.»
Rieke ließ die Hand des Pfarrers los und legte den Arm um Theres’ Schultern, als wolle er ihr Mut machen. Sie standen mitten in der guten Stube des Pfarrhauses. Draußen vor dem Fenster sah man bereits die Sonne hinter den Hausdächern verschwinden.
Theres knickste. «Guten Tag, Herr Pfarrer.»
«Grüß dich Gott, Theres.»
Peter Konzet war ein kleiner, dicker Mann mit kugelrundem Kopf und leiser Stimme. Auf der beginnenden Glatze hatte er sorgfältig sein schütteres Haar verteilt, und Theres fragte sich, wie alt er wohl war. Sein Gesicht hatte etwas von diesen tönernen Fasnachtsmasken. Nicht nur, weil es so rund und glatt war und ohne Falten, sondern weil – weil …
«Wie alt bist du?»
Theres schrak aus ihren Überlegungen. «Vierzehn, Herr Pfarrer.» Plötzlich wusste sie, warum: weil sich nichts darin regte. Seit ihrer Ankunft hatte sich die Miene des Pfarrers kein einziges Mal verändert, hatte weder ein Lächeln noch Neugierde oder sonstwas preisgegeben. Wie warmherzig war dagegen Rieke! Augenblicklich krampfte sich ihr Herz zusammen bei dem Gedanken an den bevorstehenden Abschied von ihm.
Rieke reichte dem Pfarrer einen Umschlag mit Papieren.
«Hier in diesem Dossier finden Sie alles über Theres’ Lebensgeschichte und Werdegang samt ihren Zeugnissen. Übrigens», er zwinkerte Theres zu, «hatte sie im letzten Jahr äußerst erfreuliche Leistungen in allen Elementarfächern.»
«Das Mädchen soll mir den Haushalt führen, nicht etwa die Predigten vorbereiten», gab Konzet ungerührt zurück. «Wenn sie nur fleißig und brav ist und ihre Gebete verrichtet, bin ich’s zufrieden. Lieber Herr Rieke, Sie bleiben doch über Nacht? Ich habe das Gästezimmer herrichten lassen.»
Rieke nickte, und der Pfarrer fuhr fort: «Es ist noch ein wenigZeit bis zum Abendbrot. Trinken wir einen Schluck von dem guten Seewein, den ich uns abgefüllt habe. Das Mädchen soll sich derweil von der Köchin seine künftige Arbeitsstätte zeigen lassen. Elisabetha!»
Eine hagere, ältere Frau, die zu Theres’ Schrecken wie das Ebenbild von Lehrfrau Wagner aussah, streckte den Kopf zur Tür herein.
«Zeig der Theres ihre Kammer und dann Haus und Garten. Hernach soll sie dir in der Küche und beim Auftragen helfen.»
Mit dem Dienst im Pfarrhaus hatte es Theres gewiss nicht schlecht getroffen. Das Pfarrhaus, erst vor wenigen Jahren erbaut, war zwar groß, aber überschaubar und leicht sauber zu halten, zumal hier weder Tiere hausten noch Kinder ihren Dreck hereinschleppten. Im Erdgeschoss befanden sich Küche und Wohnstube, darüber Konzets Schlafkammer und sein Allerheiligstes, die Studierstube. Unterm Dach, neben der Gästekammer, schlief Theres. Außer fürs Putzen und Waschen war sie noch für den kleinen Gemüsegarten hinter dem Haus sowie für den Hühnerstall verantwortlich. Einkauf und Zubereitung von Mittag- und Abendessen oblagen der Köchin Elisabetha, die jeden Vormittag erschien und, nachdem das Abendessen gerichtet war, wieder verschwand,
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