Die Bettelprophetin
denn sie wohnte bei der Familie ihrer Schwester im Nachbardorf.
An Sonn- und Feiertagen sollte Theres zwischen Kirchgang und der Christenlehre am Nachmittag freibekommen, zudem waren ihr für den kommenden Sommer drei Vakanztage in Aussicht gestellt.
Auch an ihrer Unterkunft war nichts auszusetzen. Sie hatte ihr eigenes kleines Reich, mit Bett, Waschtisch, Schemel und einer hübschen, geschnitzten Truhe, in der sie ihre Sachen verstauen konnte. Gleich am zweiten Tag besorgte der Pfarrer ihrsogar eine Öllampe für die dunklen Abende – für Theres ein ungewohnter Komfort.
Und trotzdem weinte sie sich die ersten Tage in den Schlaf vor Einsamkeit. Noch nie in ihrem Leben hatte sie allein in einer Kammer übernachtet, von der Zeit in der Arrestzelle abgesehen. Noch nie so wenig gesprochen. Überhaupt – diese Stille! Kein nächtliches Kichern und Flüstern, keine Schritte auf den Fluren, ja nicht einmal tagsüber waren Stimmen zu hören, weil der Herr Pfarrer meistenteils außer Haus weilte oder sich in seine Studierstube verkroch. Und jetzt, in der Karwoche, erschienen selbst die Geräusche von der Straße oder den Nachbarhäusern her nur ganz gedämpft.
Es machte sie schier verrückt, diese Stille rundum. Zu Theres’ Erstaunen tat sie sogar weh, drückte ihr gegen die Ohren, gegen die Schläfen, wurde schließlich zu einem hör- und spürbaren Ton, einer Art Brummen oder Summen. Um sich zu helfen, begann Theres leise vor sich hin zu singen. Zumeist drängten sich ihr immer dieselben Verse in den Sinn:
Jetzt reit ich nicht mehr heim,
bis daß der Kuckuck «Kuckuck» schreit,
er schreit die ganze Nacht,
allhier auf grüner Heid …
Und dabei kamen ihr nicht selten die Tränen.
Am dritten Tag, als der Pfarrer früher als erwartet zum Abendessen heimkehrte, ertappte er sie beim Singen. Sie erwartete schon eine Rüge, doch er meinte nur, mit ernster Miene: «Wie schön ist es doch, wenn fröhliche Menschen um einen sind.» Das war das erste Mal seit ihrer Ankunft, dass er ein persönliches Wort an sie richtete. Ansonsten sprach er nur das Notwendigste mit ihr und Elisabetha. Als einem Mann von Bildung schien ihm wohl das Gespräch mit Dienstboten unter seiner Würde.
Elisabetha indessen redete gar nicht mit ihr. Sie starrte mit glanzlosen Augen über sie hinweg, wenn Theres etwas fragte, und zeigte ihr dann mit einer Handbewegung, was zu tun war. Es brauchte einen ganzen Tag, bis Theres begriffen hatte, dass die Köchin stumm war.
An Gründonnerstag, dem vierten Tag ihrer Dienstzeit, verhüllte Pfarrer Konzet ganz nach altem Brauch das Kruzifix in der Stube und hielt das Pendel der Standuhr an, damit ihr Schlagen nicht die Trauer um Christi Leiden störte.
«Früher war alles anders», brummte Konzet vor sich hin. «Da haben wir auch in unseren Kirchen das Kreuz verhüllt, nicht nur heimlich in der Stube. Die Glocken mussten bis Ostern schweigen, und die Kinder auf der Straße riefen mit Ratschen und Klappern zum Gottesdienst. Aber unsere ach so aufgeklärte Staatskirche schafft ja alle heiligen Riten ab. Kein Wunder, dass es den gemeinen Mann nicht mehr in die Kirche zieht. Ausbluten lassen sie unseren katholischen Glauben, zum Heiligen Stuhl in Rom haben wir Geistliche keine Verbindung mehr, zu braven Staatsdienern hat man uns gemacht, zu Pfarrer und Bischof ernannt durch des Königs Gnaden!» Er seufzte tief auf. «Jetzt lass uns beten, Theres, in Demut vor dem Herrn.»
Überrascht von diesem wahren Redeschwall kniete sie sich neben ihn unter das verhüllte Kruzifix und verrichtete ihr Gebet. Fünfmal am Tag musste Theres auf der hölzernen Gebetsbank niederknien, und sie tat dies gehorsam, auch wenn Konzet nicht zu Hause war. Wobei sie nicht wirklich an Gott dachte, sondern an ihren toten Freund Urle und hin und wieder an ihre Mutter oder an Sophie, die sie so schmerzhaft vermisste.
Nachdem sie das Kreuzzeichen geschlagen und sich wieder erhoben hatten, nahm Theres allen Mut zusammen und fragte:
«Warum ist die Elisabetha stumm, Herr Pfarrer?»
«Weil ihr als jungem Ding der Mann gefallen ist, als Soldat beim Russlandfeldzug. Sie trug ein Kind unter dem Herzen. Das kam ihr drei Jahre später ums Leben, als Mordbrenner ihr das Dach überm Kopf anzündeten. Seither spricht sie nicht mehr.»
An diesem Gründonnerstagabend begleitete sie ihren Dienstherrn zum ersten Mal in die Kirche Mariä Himmelfahrt, eine hübsche, altehrwürdige Dorfkirche. Für Theres erwies sich der Gottesdienst trotz
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