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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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waren damit zumindest an den Vormittagen aus Theres’ Leben verschwunden. Hilfslehrer Löblich musste die Kleinsten übernehmen, darunter Pauline und ihre stumme Zwillingsschwester. Auch das war Theres gerade recht, denn das Mädchen hatte sich am Ende an ihren Rockzipfel gehängt wie ein Kleinkind.
    Für den Unterricht selbst forderte der neue Anstaltsleiter mehr Einsatz von seinen Lehrkräften und inspizierte dies auch durch unangekündigte Besuche in den jeweiligen Klassen. Etliche Neuerungen führte er ein. Der korrekte Gebrauch der deutschen Sprache sowie Zeichnen, Musik und Gesang, auch der von weltlichen Volks- und Wanderliedern, wurden zu neuen Elementarfächern. Die Schulstunden waren künftig von zwei Pausen unterbrochen, in denen sie im Hof Turn- und Leibesübungen machten. Außerdem ließ Rieke neue Landkarten und Schreibmaterialien, Musikalien und Blockflöten anschaffen, für die oberste Klasse auch physikalische Apparaturen, und eines Tages stand gar ein wunderschönes Fortepiano im Speisesaal.
    «Liebe Kinder, wir können euch für eure Zukunft weder Reichtum noch Glück herbeizaubern», hatte er den Zöglingen in seiner Rede erklärt. «Aber wir können euch stärken, damit ihr euch dereinst selbst helfen könnt. In meiner Vorstellung sollen euer Geist, euer Herz und euer handwerkliches Geschick gleichermaßen gefördert werden. Denn ich glaube, dass nur die Erziehung des ganzen Menschen zu wahrer sittlicher Reife führen kann.»
    Auch was die Arbeitsstunden am Nachmittag betraf, änderte sich einiges. Vielfältige Erfahrungen sollten sie machen, dabei Gewerbefleiß einüben und von einfachen Fertigkeiten wie Besen- und Bürstenbinden zum ausgefeilten Handwerk gelangen. Sie erhielten Einblick in ganz neue Gewerke: Statt immer nurStrümpfe zu stricken oder Baumwolle zu verspinnen, lehrte Creszenz Heni sie nun Teppichherstellung, Tuchweberei, Schneiderei, Garten- und Landbau oder unterrichtete sie in moderner Hauswirtschaft. Das Arbeitslokal der Knaben wurde zu einer großen Werkstatt umgebaut, wo sie schreinerten und an der Drechselbank standen, um Sägböcke und Stühle, Kinderschlitten und Spielzeug zu fertigen. Bald kamen noch eine Seilerei, eine Schuhmacherei und eine Schmiede hinzu.
    Einiges von den fertigen Erzeugnissen wurde nach wie vor verkauft, vieles indessen, wie Körbe, Hausschuhe oder Spielzeug, für den eigenen Bedarf behalten, genau wie die Erträge aus Gartenbau und Landwirtschaft. Das Beste aber war: Jedes Kind erhielt ein eigenes Beet, von dem ein Drittteil des Gewinns im eigenen Sparhafen landete.
    Viel häufiger als zuvor kamen sie nun hinaus an die frische Luft. Nicht nur zur Gartenarbeit oder zum Landbau auf der Scholle, die Rieke unten im Tal gepachtet hatte, sondern noch weiter zu Arbeitseinsätzen rund um Altdorf. Sie sammelten Brennnesseln, Arznei- und Gewürzpflanzen oben in den Hügeln, suchten Pilze im dunklen Lauratal, wo angeblich ein Ritterfräulein namens Laura umging, weiß wie Wachs, mit einem langen, weißen Schleier, oder sie ernteten Seegras am Häcklerweiher, an dessen Ufer König Friedrich sich einst bei der Möwenjagd ergötzt hatte.
    Überhaupt war Rieke ein Verfechter von Gesundheit, frischer Luft und Bewegung. Neben den Turnübungen ordnete er hin und wieder Exkursionen in die Umgebung an, in ihren Recreationspausen durften sie Fangen spielen oder
Der Fuchs geht um
. Die Sonntagnachmittage waren für Familienbesuche, Briefeschreiben oder Spaziergänge hinunter in den Ort vorgesehen. In kleinen Gruppen, ganz ohne Aufsicht, schlenderten sie dann durch die Gassen des Marktfleckens, der trotz seinerGröße auf Theres recht ärmlich wirkte. Die meisten Häuser waren niedrig, mit Strohdächern und ganz aus Holz gebaut. Auf den ungepflasterten Straßen spielten barfüßige Kinder mit struppigem Haar, Hühner gackerten hinter den Lattenzäunen der Gärten, die verwinkelten Höfe bargen Werkstätten oder windschiefe Ställe für das Vieh. Am reichsten schienen noch, von dem prächtigen Schlössle der früheren Landvogtei einmal abgesehen, die Anwesen der Müller und Wirte; der ganze Rest hatte etwas von einem großen Dorf. Nicht einmal eine Poststation gab es hier, dafür mindestens ein halbes Dutzend Polizeidiener, von denen sie misstrauisch ins Auge gefasst wurden. Dennoch mochte Theres diesen Ort, der so malerisch am Osthang des Schussentals gelegen war, und freute sich jedes Mal aufs Neue auf ihren Sonntagsspaziergang.
    Bei all den Umgestaltungen im Tagesablauf

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