Die Bettelprophetin
gerieten die geistlichen Unterweisungen und Bibelstunden merklich ins Hintertreffen. In den Morgen- und Abendandachten ging es nun auch um so praktische Dinge wie die Verteilung der Hausgeschäfte, um Tages- und Wochenereignisse, oder es wurde der Geburtstagskinder, der Neuen und Entlassenen gedacht. Über all diese Neuerungen war Theres kein bisschen unglücklich. Dass sie aber den Gottesdienst in Sankt Martin nur noch am Wochenende und an Feiertagen besuchten, bedauerte sie sehr. Die katechetischen Übungen wurden auf den Mittwochnachmittag beschränkt.
Hierüber war Rieke, der wie sein Amtsvorgänger evangelisch war, mit seinem Verwalter einmal in hitzigen Streit geraten. Ganz zufällig war Theres davon Zeuge geworden, als sie eines Vormittags vom Abtritt unten im Hof zurück zur Schulstunde geeilt war. Im Flur nahe dem Treppenhaus waren die beiden ins Gespräch vertieft gewesen und hatten sie nicht bemerkt.
«Ich bezweifle», hörte sie Heintz sagen, «dass die Kirche esfür gut befindet, was Sie hier tun und vor allem lassen. Statt Bibel und Katechismus zu studieren, zeichnen die Kinder neuerdings Löwenzahnblätter oder singen so albernes Liedgut wie
Ein Jäger aus Kurpfalz
. Wenn das der Bischof oder der Dekan wüsste!»
«Lassen Sie das nur meine Sorge sein», entgegnete Rieke.
«Aber die Kinder brauchen Disziplin und die Unterweisung in den rechten Glauben! Alles andere ist Zeitverschwendung.»
«Zeitverschwendung, mein lieber Heintz, ist dieses geistlose Auswendiglernen von Bibelstellen, diese Auftragsbeterei! Das lähmt den Geist und lässt das Herz verkümmern. Ehrlich gesagt, war ich erschüttert», Riekes Ton wurde schärfer, «in welchem Maße sämtliche neuen Erkenntnisse in der Pädagogik an diesem Institut spurlos vorübergegangen zu sein scheinen. Junge Menschen zu isolieren und einzusperren, nenne ich keine echte sittliche Erziehung. Wir müssen diese Kinder bei der Hand nehmen, gerade die Vagantenkinder. Wir müssen ihnen Geborgenheit schenken und vor allem Bildung. Das ist doch das wahre Rüstzeug fürs Leben.»
«Perlen vor die Säue geworfen ist das!», rief Heintz so laut, dass Theres oben auf ihrem Treppenabsatz zusammenzuckte. «Diese Kinder sind gar nicht fähig zu höherer Bildung. Sie sind und bleiben der Bodensatz unserer Gesellschaft.»
«Ich warne Sie, Herr Kollege. So etwas will ich in diesem Hause nie wieder hören. Nach Können und Leistung sollten wir einen Menschen beurteilen, niemals nach seiner Herkunft.»
Heintz schnaubte. «Wenn wir unsere Zöglinge solchermaßen verzärteln, dann werden die Bettler und Landstreicher nur noch mehr Kinder in die Welt setzen! Außerdem: Was soll der ehrliche Bauersmann denken, wenn seine Kinder auf dem Acker oder neuerdings in einer dieser Fabriken schuften müssen, während die Zöglinge hier wie im Schlaraffenland leben,mit üppigster Kost und mit Kinderfest zu Erntedank und sogar einer Christbescherung für jeden Einzelnen – wie ich hab läuten hören!»
«Da haben Sie ganz recht gehört! Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss noch die Bibelstunde präparieren.»
Theres hatte nicht alles begriffen, was sie da heimlich belauscht hatte, aber sie ahnte, dass all die Neuerungen unter Rieke dem alten Verwalter gehörig gegen den Strich gingen – allem voran die Abschaffung der Leibesstrafe. Statt einer Tracht Prügel nämlich musste nun der Faule mehr arbeiten, der Unordentliche mehr putzen als die anderen, und bei noch gröberen Verfehlungen wurde das Essen entzogen oder Stubenarrest angeordnet.
Und tatsächlich: Noch ehe das Jahr um war, hatte Wilhelm Ludwig Heintz um Versetzung an das Waisenhaus in Stuttgart gebeten. An seiner Statt kam der Altdorfer Georg Boller, ein gelernter Verwaltungsgehilfe, der selbst als Waise aufgewachsen war. Und noch jemand war schon bald verschwunden: Theres’ ehemalige Lehrfrau Wagner. Sie hatte eines der Mädchen wegen Äpfelklauens halbtot geprügelt und noch am selben Tag ihre Sachen packen müssen. Das war an jenem Tag Anfang Januar gewesen, als Theres endlich die ersehnte Antwort auf ihren Brief an Hannes bekommen hatte.
Leider waren es keine guten Nachrichten: Ihr Bruder hatte sie nur deswegen im Sommer nicht wie versprochen besucht, weil er sich mit der Sense in den Fuß geschlagen hatte. Die Wunde sei brandig geworden und man habe ihm die Zehen abnehmen müssen. Nun könne er keine weiten Strecken mehr wandern, aber er wolle sein ganzes Geld sparen, bis es für eine Passage mit
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