Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
Vom Netzwerk:
gewiss nicht vergessen», hatte der Anstaltsleiter sie beruhigt und gesagt, dass künftig ein jeder von ihnen, der noch Eltern oder Anverwandtschaft habe, zweimal im Monat die Gelegenheit zum Briefeschreiben erhalten solle und dass das Institut sich darum kümmern werde, die Post weiterzuleiten. Am Ende schließlich hatte Theres gewagt, die Frage zu stellen, die ihr auf der Zunge brannte: was mit Urle geschehen sei. Und erfahren, dass sein Leichnam zu seiner Familie gebracht worden sei, die ihn in seiner Geburtsstadt Konstanz bestatten wollte. So hatte Urle also doch noch heimgefunden.
    Statt der üblichen Bibelstunde hatte Gustav Rieke am Nachmittag dann für Urle eine Trauerandacht abgehalten. Hierzu war, neben den Waisen- und Vagantenzöglingen, sämtliches Personal in den Betsaal einberufen worden, der in den Scheinunzähliger Kerzen gehüllt war. Noch nie hatte Theres diesen Raum als so licht und warm empfunden.
    Nachdem Rieke sich denen, die ihn noch nicht kannten, als neuer Anstaltsleiter vorgestellt hatte, begann er mit seiner Predigt.
    «
Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden
, spricht der Erlöser zu seinen Jüngern.» Sein Blick streifte die Reihe der Lehrer und Aufseher. «Doch Trost hat unser junger Zögling Ulrich bei uns Menschen nicht gefunden. So bitte ich dich, o Herr: Nimm ihn auf in Frieden und Liebe. Du bist die Auferstehung und das Leben. Wer an dich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist. Lass ihn aufwachen bei dir, o Herr.»
    Seinen weiteren Worten, voller Mitgefühl und Wärme für Urles Nöte und Ängste, für dessen Träume und Hoffnungen, die sich hier auf Erden nicht hatten erfüllen dürfen, konnte Theres kaum noch folgen. Sie weinte still vor sich hin. Erst jetzt vermochte sie das zu empfinden, was zum Tod eines geliebten Menschen gehörte: eine unsagbare Trauer, die ihr fast das Herz zerriss. Immer wieder betrachtete sie das kleine Holzpferd in ihrer Hand, dessen zierlicher Kopf, dessen feinste Linien von Mähne und Schweif kaum von Menschenhand gemacht sein konnten. Und doch hatten Urles große, kräftige Hände sie geschnitzt, für sie, Theres, als bleibende Erinnerung an ihre Freundschaft.
    Da begannen neben ihr auch Sophie und Pauline zu weinen und am Ende, als sie alle gemeinsam um sein Seelenheil beteten, sogar Rosina und einige der Buben. Selbst auf den anfangs versteinerten Mienen des Hauspersonals zeigte sich hier und da ehrliche Ergriffenheit.
     
    Mit Gustav Riekes Amtsantritt wehte ein neuer Wind durch das Königliche Waisenhaus zu Weingarten. Als Erstes gestalteteer den Unterricht vollkommen um, nachdem er drei Tage lang die Schulstunden observiert hatte. Die Klasse der Vagantenkinder wurde aufgelöst und, je nach Alter und Kenntnissen, in die Klassen der Waisen eingefügt. Aus deren drei machte er vier Klassen. Theres kam zu ihrer Freude zusammen mit Sophie in die zweite Klassenstufe, die Oberlehrer Fidelis Heni führte, ein stiller, ernsthafter Mensch. Dessen Ehefrau Creszenz Heni wurde zu ihrer Lehrfrau in den nachmittäglichen Arbeitsstunden, an denen auch die Waisenkinder teilnehmen mussten. Rieke nämlich sah in der praktischen Arbeit das wichtigste Mittel zur Ausbildung der Menschenkraft und zur Vermittlung des wirklichen Lebens, wie er in seiner offiziellen Antrittsrede betont hatte. Wobei die Anstrengung für die Kinder nicht zu groß werden dürfe und sich Geistes- und Leibesbeschäftigungen zweckmäßig abwechseln müssten.
    Überhaupt wurde hinfort keine Unterscheidung mehr zwischen Waisen- und Vagantenkindern gemacht – auch wenn die Waisen lauthals dagegen maulten. Alle hatten sie nun denselben Tagesablauf, genossen dasselbe Essen, wurden gleichermaßen versorgt und gekleidet. Für die Vagantenkinder bedeutete dies, dass auch sie nun die hübsche dunkelblaue Kleidung erhielten und im Schlafsaal jeweils ein eigenes Bett bekamen. Hierzu wurde eigens ein zweiter Schlafsaal ausgebaut, der künftig nachts auch nicht mehr verriegelt wurde, denn ein Waiseninstitut sei schließlich kein Gefängnis, wie Rieke den Kindern lächelnd erklärt hatte.
    Auch sein Versprechen, ihre Briefe weiterzuleiten, hatte er eingelöst. Fünf engbeschriebene Blätter hatte Theres gleich bei der ersten Gelegenheit an ihren Bruder Hannes geschrieben und erwartete seither jeden Tag aufs Neue sehnsüchtig seine Antwort.
    Jodok und Rosina durften schon bald in die höchste Klassewechseln, die der gelehrte Schulmeister Raimund Wurst unter sich hatte, und

Weitere Kostenlose Bücher