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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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sich über die Augen. Es war kalt an diesem späten Aprilmorgen, aber wenigstens trocken. Somit würden sie bereits am Nachmittag das Pfarrdorf Ringschnait nahe Biberach erreichen, wie Rieke ihr erklärt hatte – die Straße dorthin sei in gutem Zustand. Nachdem er in seiner umgänglichen Art den Kutscher begrüßt hatte, half er ihr, den schweren Reisesack in den Gepäckkasten zu hieven. Zwei Garnituren Kleidung, Schuhe und Strümpfe enthielt der Beutel, alles fast wie neu, dazu Bett- und Weißwäsche sowie Theres’ wenige persönliche Habseligkeiten.
    Rieke hatte gerade den Schlag geöffnet, um Theres einsteigenzu lassen, als hinter ihnen ein munteres «Grüß Sie Gott, Herr Oberinspektor!» ertönte. Es war Jodok. Sein schwarzes Haar fiel ihm bis zur Schulter, das grinsende Gesicht war nicht mehr bleich und hohlwangig, sondern sonnengebräunt. Jetzt bog sich sein breiter Rücken unter der Last einer Rückenkraxe.
    «Wohin bist du unterwegs?», fragte Rieke freundlich.
    «Früher Vogel fängt den Wurm. Hab schon mein Geschäft g’macht mit der Fanny, der Sternenwirtin, und der Frau vom Habisreutinger. Jetzt will ich weiter nach Ravensburg.»
    «Und was hast du in deinem Korb?»
    «Sämereien, Dörrobst, Spezereikram. Mit meinen Lumpen und Hadern war kein Geschäft net mehr zu machen, wo doch hier im Oberamt eine Papiermühle nach der andern verreckt. Aber vielleicht handel ich ja bald mit Schreibwaren. Der Joseph Michel von Altdorf ist damit reich g’worden.» Er wandte sich Theres zu. «Sag bloß – bist du die Theres?»
    Theres nickte nur.
    «Heidenei! Was bist du hübsch g’worden! So hatt ich dich gar net in Erinnerung. Bist jetzt auch so weit, zum Gesindedienst? Bestimmt bei ganz feinen Herrschaften   …»
    «Genug geplaudert, Jodok», unterbrach Rieke ihn. «Wir müssen los. Alles Gute, und behüte dich Gott, mein Junge.»
    Er sah Jodok nach, wie er in großen Schritten in Richtung Rathaus stapfte.
    «Schade», murmelte er, während sie einstiegen. «Der hätte das Zeug zu einem Kaufmannsgehilfen gehabt. Aber vielleicht war schon zu viel schiefgelaufen. Wie ich ihn kenne, hat er nicht einmal ein Patent.»
    «Ein Patent?»
    «Eine Genehmigung. Die braucht man neuerdings, weil es in Altdorf zu viele Hausierer gibt. Der Gemeinderat hier hält sie für arbeitsscheue Müßiggänger, die das Bettelverbot umgehenund ihr Publikum belästigen.» Er schüttelte den Kopf. «Dabei bedürfen die Einödbauern dieser Art Handel ganz dringend. Außerdem fallen die Hausierer damit nicht der Fürsorge zur Last. Aber das Ganze ist und bleibt ein Gewerbe der armen Leut.»
    Er gab dem Kutscher den Wink loszufahren. Als sie bald darauf die Landstraße nach Biberach erreichten, steckte Theres den Kopf aus dem Fenster und warf einen letzten Blick zurück. Die Sankt-Martins-Kirche, von den Leuten hier ihrer einzigartigen Größe und Pracht wegen «Schwäbisch Sankt Peter» genannt, blickte stolz ins Land – nicht mehr erhaben und einschüchternd wie bei ihrer Ankunft damals, sondern vertraut wie ein alter Freund.
    Theres schluckte. Nach und nach waren ihr die Menschen im Waiseninstitut zu einer Art Familie geworden, mit Gustav Rieke als Hausvater. Wie ein echter Vater hatte er sich um seine Zöglinge gekümmert und das Gespräch mit ihnen gesucht. Jetzt fühlte sie sich hinausgeworfen in eine feindliche Welt. Was würde sie erwarten in dem fremden Pfarrhaus? Wie sollte sie es aushalten ohne Sophie, die ihr in all den Jahren zur Herzensfreundin und Schwester geworden war? Unzertrennlich waren sie geworden, hatten alles miteinander geteilt und sich beim Abschied geschworen, sich niemals aus den Augen zu verlieren. Auch wenn kaum mehr als eine Tagesreise zwischen ihnen lag, stieg in Theres plötzlich die schmerzhafte Angst auf, Sophie niemals wiederzusehen, und sie musste an sich halten, nicht erneut in Tränen auszubrechen.
    «Mach dir keine Sorgen», hörte sie Rieke sagen. «Es wird dir gut ergehen bei Pfarrer Konzet. Er ist ein Mensch von Bildung, der sich sehr für seine Schule und Pfarrgemeinde einsetzt. Vertraue nur auf unseren Herrgott. Und jetzt schließ das Fenster. Sonst erkältest du dich noch.»
    Sie tat, wie ihr geheißen. Draußen war die ihr so vertraute lichte Landschaft mit ihren Kornfeldern, Weingärten und Obstwiesen inzwischen dem dunklen Altdorfer Forst gewichen. Sie lehnte sich auf ihrem gepolsterten Sitz zurück und warf einen verstohlenen Blick auf Rieke, der ihr gegenübersaß. Er war ein

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