Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
Vom Netzwerk:
Theres versetzte es einen Stich ins Herz, wie sie ihn so dasitzen sah. Um ihn von seinen Grübeleien abzulenken, fragte sie: «Willst du hierbleiben, im Dorf? Ich mein, für immer?»
    Er schüttelte den Kopf. «Irgendwann geh ich weg, nach Münsingen oder in eine andre Stadt. Da findet sich ja wohl ein Lehrherr, der auch einen Krüppel aufnimmt. Oder ich geh als Arbeiter in eine dieser neuen Fabriken, wo man   …»
    «Red nicht so!», unterbrach sie ihn schroff. «Du bist kein Krüppel.»
    «Doch! Genau das bin ich. Ein Krüppel, seitdem ich zwölf bin. Einer, der keine anständige Arbeit findet und über den die Mädchen lachen.»
    Er verfiel wieder in sein dumpfes Brüten.
    «Hannes?»
    «Was ist?»
    «Was weißt du über unsere Mutter?» Jetzt war es ihr doch herausgerutscht, einfach so.
    «Nichts.»
    «Sie war aber vor zwei Jahren in Münsingen, in Arrest.»
    «Ach ja?» Seine Hand, die das Messer hielt, begann zu zittern.
    «Und dann hat man sie von dort – weggeschafft. Weißt du, was das heißen könnte?»
    «Nein!» Zu Theres Erstaunen füllten sich seine Augen mit Tränen. Sie packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn.
    «Du weißt was, Hannes. Sag es mir!»
    «Herr im Himmel, lass doch den alten Kram.» Jetzt wurde er wütend. «Sie hat uns weggegeben. Der Rest zählt nicht.»
    «Wo ist sie? Wo ist unsere Mutter?»
    Nach langem Schweigen gab er ihr endlich, im Flüsterton, die Antwort: «In Zwiefalten.»
    Ungläubig schüttelte Theres den Kopf. Das konnte nicht sein! Nach Zwiefalten, das wusste sie seit ihrer frühesten Kindheit, kamen die Blöd- und Schwachsinnigen, die Irren, die um sich schlugen und spuckten und nicht mehr Herr ihrer Sinne waren. Zwiefalten, das war der Höllenort, mit dem man ihnen als Kinder und mit dem auch Löblich immer ihrem Freund Urle gedroht hatte. Die ehemalige Reichsabtei lag nicht allzu weit von hier, sie war damals auf dem Weg nach Weingarten daran vorbeigekommen und hatte sich ganz fürchterlich gegraust.
    Sie ließ ihren Bruder los.
    «Ich will sie sehen. Morgen früh geh ich nach Zwiefalten.»
    «Tu das nicht! Ich war bei ihr – es war schrecklich.»

9
    Königliche Staats-Irrenanstalt Zwiefalten, Juli 1838
    Unten im Tal schmiegte sich die weitläufige Anlage an die waldigen Berghänge. Man sah sofort, dass das einstige Kloster sehr mächtig und reich gewesen sein musste. Mit der riesigen, doppeltürmigen Kirche und der Mauer rundum fühlte Theres sich sogleich an Weingarten erinnert. Während sie sich an den Abstieg machte, wurden ihr die Beine schwer. Eine unbestimmte Angst ergriff von ihr Besitz. Warum nur war sie nicht einfach nach Münsingen gegangen und dort in die Postkutsche gestiegen? Ganz davon abgesehen, dass sie nun erst am Sonntag im Pfarrhaus ankommen würde statt am Samstagabend. Das würde Ärger geben, dessen war sie sich sicher. Da mit ihrem Bruder über all dies nicht zu reden gewesen war, hatte sie sich bei Marx erkundigt und erfahren, dass es auch in Zwiefalteneine Poststation gab. Sogar zweimal, morgens und abends, ging im Sommer eine Kutsche in Richtung Biberach. Und teurer würde die Passage auch nicht werden.
    Sie musste ein Stück weit die Mauer entlangwandern, bis sie an das Pförtnerhaus gelangte. Nachdem sie die Glocke geläutet hatte, öffnete sich ein Fensterchen neben dem Tor.
    «Was gibt’s?», fragte der ältere Mann streng.
    Theres musste sich zwingen, laut und deutlich zu sprechen. «Ich möchte zu einer Kranken. Zu Maria Bronner.»
    «Als Angehörige?»
    Sie nickte.
    «Warte.»
    Gleich darauf öffnete sich mit lautem Knarren eine Tür, die in das Hoftor eingelassen war, und sie trat ein. Vor ihr führte ein kiesbedeckter Weg durch die Grünanlage mit schattigen Bäumen und ordentlichen Gemüsebeeten, an denen sich einige Gärtner zu schaffen machten. Erst auf den zweiten Blick erkannte Theres, dass sie alle denselben grauen Kittel trugen und runde Helme auf dem Kopf.
    Der Pförtner winkte einen Mann heran, der bucklig und krumm neben einem Holzkarren stand und offensichtlich die Arbeit beaufsichtigte.
    «Bring das Mädchen ins Haupthaus.»
    Unsicher folgte Theres dem Mann in Richtung eines langgestreckten Gebäudes dicht bei der Kirche. Die Männer in den Kitteln gafften sie unverhohlen an, einige kicherten und zogen Grimassen.
    «Schaffet weiter und glotzet net», rief der Mann ihnen zu. Da plötzlich sprang einer von ihnen, nicht viel älter als ihr Bruder Hannes, auf sie zu und versuchte ihr einen Kuss auf den Mund zu

Weitere Kostenlose Bücher