Die Bettelprophetin
drücken. Sofort ging ihr Begleiter mit einem Stecken dazwischen.
«Weg da, Camill! Gleich kommst zurück in deine Zelle.»
«So a schöne Braut», hauchte der Angesprochene. In seinem Mundwinkel stand gelblicher Speichel. Dann zog er sich gehorsam zurück.
«Zu wem willst?»
«Zu Maria Bronner.»
Der Mann nickte nur und ließ sie in eine große Eingangshalle eintreten. Rechts und links zweigten Korridore ab, in denen Frauen in adretten weißen Schürzen und Häubchen geschäftig hin und her eilten. Geradeaus führte eine breite Treppe nach oben. Auf den Holzbänken entlang der Wand hockten Männer und Frauen unterschiedlichen Alters. Einige redeten laut, ohne dass Theres erkennen konnte, mit wem, andere starrten teilnahmslos vor sich hin. Ihr war, als würde sich eine eiserne Klammer um ihre Brust legen, die ihr die Luft nahm. Dennoch zwang sie sich, jedes der Frauengesichter zu prüfen, ob sie nicht in einem davon ihre Mutter erkennen konnte. Vergebens.
Eine Krankenwärterin kam auf sie zu.
«Sie will zur Bronnerin», erklärte der Mann an Theres’ Seite.
«Die ist grad bei Doktor von Schäffer, zur Messung. Bist du eine Angehörige?»
Es fiel Theres unendlich schwer, die beiden Worte auszusprechen: «Ihre Tochter.»
«Dein Name?»
«Theres Ludwig, aus Eglingen.»
«Schon seltsam. Erst kam zwei Jahre lang kein Mensch zu der Bronnerin und jetzt erst der Sohn, dann die Tochter. Der junge Mann war allerdings schnell wieder draußen. Hock dich da auf die Bank und wart. Ich geb dem Doktor Bescheid.»
Sie schlurfte in den dunklen Korridor und verschwand hinter einer der zahlreichen Türen. Theres bemerkte, dass dieFlurfenster zugemauert waren. Und auch, dass die Pflegerinnen allesamt von ziemlich kräftiger Gestalt waren.
«Was heißt das – Messung?», fragte sie den Buckligen.
«Untersuchung halt. Größe, Gewicht, Temperatur, Appetit, Schlafverhalten, Betragen. Wird alles ganz wissenschaftlich aufgeschrieben.» Er schüttelte den Kopf, als halte er diese Prozedur für höchst überflüssig.
«Und die Menschen hier …» Sie blickte angespannt nach rechts und links. «Sind das alles – Kranke?»
«Ja. Die ruhigeren halt. Die richtig Irren sind in den Zellen.»
Dann ließ er sie ohne ein weiteres Wort stehen und ging wieder hinaus.
Mit weichen Knien setzte sich Theres auf eine freie Bank, ihr kleines Reisebündel zwischen die Waden gepresst. Ob ihre Mutter wohl zu den richtigen Irren zählte? War Hannes deswegen so schnell davongelaufen? Sie schrak auf, als sich ein dickleibiger Mann neben sie auf die Bank quetschte. Auf dem struppigen Haar trug er eine Papierkrone, die mit einem Band unterm Kinn befestigt war. Aus seiner Nase rann Rotz. Ihr erster Impuls war aufzustehen, doch der Mann beachtete sie gar nicht. Er stützte die Arme auf die massigen Oberschenkel und wiegte unablässig den Kopf hin und her, so vorsichtig allerdings, dass seine Krone um kein Quäntchen verrutschen konte. Dabei brabbelte er in einer fremden Sprache vor sich hin.
«Theres Ludwig?»
Vor ihr stand, neben der Krankenwärterin von zuvor, ein schlanker Mann in weißem Kittel. Der stechende Blick unter der hohen Stirn begann Theres förmlich zu durchbohren.
«Die Tochter der Maria Bronner?»
«Ja», brachte sie gerade noch heraus.
«Ich bin Doktor von Schäffer, der Direktor der Anstalt. Deine Mutter ist heute nicht in bester Verfassung. Kannst du ein andermal wiederkommen?»
Die Eisenklammer schnürte sich noch enger um ihre Brust. «Ich komm von weit her, aus Biberach.» Sie begann zu stottern. «Was ist – was ist mit meiner Mutter?»
«Nun, an manchen Tagen ist sie sehr ruhig. An anderen wechselt sie zwischen Raserei und Schwermut. So wie in letzter Zeit.»
«Bitte, Herr Direktor! Ich muss sie sehen.»
Er schien zu überlegen. Dann wandte er sich an die Krankenwärterin. «Gut, versuchen wir es. Sie bleiben auf jeden Fall dabei, Schwester Barbara.»
«Soll ich die Bronnerin ins Conversationszimmer bringen?»
«Das ist mir zu unsicher. Sie soll in ihrer Zelle bleiben. Und notieren Sie alle Vorkommnisse auf der Zellentafel. Haben Sie die Arznei?»
«Ja, Herr Direktor.»
Die Krankenwärterin nahm Theres beim Arm und zog sie hinter sich die Treppe hinauf, bis sie zwei Stockwerke höher in einen langgestreckten Flur einbogen. Die Fenster linker Hand, wenngleich vergittert, ließen helles Tageslicht herein. An der Wand gegenüber reihte sich eine Tür an die andere.
Schwester Barbara zog einen Schlüsselbund
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