Die Bettelprophetin
auch endlich mal?», waren seine Begrüßungsworte.
Eine Welle von Wut und Ekel stieg in ihr auf. Wie verkommen ihr Pflegevater aussah! Als habe er sich selbst und seine Kleider seit Monaten nicht mehr gewaschen.
«Guten Abend», sagte sie nur, ohne ihm die Hand zu reichen.
Stickl kniff die Augen zusammen. «Ist das alles, was du nach sechs Jahren zu sagen hast? Mir, deinem Pflegevater, wo ich dich mit eigener Hand aufgezogen hab?»
Statt einer Antwort zog sie ein Päckchen aus ihrem Bündel.
«Mit besten Grüßen von meinem Dienstherrn, dem Herrn Pfarrer.»
Stickls Miene hellte sich auf. «Wenigstens was.»
Seine gichtigen Finger rissen das Papier auseinander. Zum Vorschein kamen eine Mandel hartgekochter Eier von Konzets Hühnern und ein Töpfchen mit Honig.
«Der weiß, was sich gehört, dein Pfaffe», murmelte er. «Schließlich muss ich dich zwei Tage durchfüttern.»
Theres hatte, nachdem sie mit dem Alten wegen Hannes’ Unfall in Streit geraten war, schlecht geschlafen in dieser Nacht.Erst hatte sie geträumt, dass ein Amtsdiener aus Münsingen sie holen kam mit den Worten: «Wir müssen dich wegschaffen.» Dieses letzte Wort wiederholte sich so lange, bis sie erwachte. Die kleine Kammer lag in hellem Mondschein, vom Bett nebenan hörte sie das leise Schnarchen der Stiefschwester Berthe. Sie zwang sich, an den morgigen Tag zu denken, den sie allein mit ihrem Bruder verbringen wollte. Als sie endlich wieder in den Schlaf gefunden hatte, träumte sie, wie ihr Pflegevater im Streit auf Hannes losging, mit einer blutigen Axt in der Hand. Ihr Bruder lag hilflos auf dem Rücken vor dem Tor zum Schuppen, sein linkes Bein unterhalb des Knies war nur noch ein blutiger Stumpf. Da holte der Alte aus und hieb den Keil in das andere Bein. Hannes riss den Mund zu einem stummen Schrei auf, sein Gesicht verwandelte sich dabei plötzlich in das von Urle, der seine Arme ausbreitete und langsam in die Luft schwebte, bis über das Dach des Schuppens, immer höher und höher. Dann verschwand er als winziger Punkt am Himmel.
Als sie erwachte, war es hell draußen und ihr Kissen von Tränen durchnässt. Am Bettrand saß Hannes.
«Du hast geträumt.» Er strich ihr übers Haar.
«Ja. Es war schrecklich.»
Sie richtete sich auf. «Wo ist Berthe?»
«Schon fort. Ich hab ihr gesagt, sie soll dich schlafen lassen. Komm, steh auf und iss was. Dann können wir los.»
Theres war froh, dass sie mit Hannes allein war, während sie vor der Herdstelle ihren Brei löffelte. Sie hatte jetzt wirklich Hunger, da Berthe ihr am Vorabend lediglich einen Rest wässriger Suppe übrig gelassen hatte.
«Sollen wir zur Kapelle rauf?»
Er schüttelte den Kopf. «Lieber in den Wald, hinten beim Rauhberg. Da kommen wir nicht an unserm Acker vorbei.»
Sie durchquerten das Dorf, vorbei an der frischverputzten Kirche und am einstigen Herrenschloss, das inzwischen als Schul- und Rathaus diente. Jeder grüßte sie freundlich, einige blieben auch neugierig stehen oder kamen herangelaufen, um mit Theres einen Schwatz zu halten. So bemerkte sie erst, als sie die letzten Häuser erreichten, wie mühsam für Hannes das Gehen war.
«Schaffst du es überhaupt so weit?»
«Ja», entgegnete er knapp.
Ihr Blick fiel auf die geduckte Lehmhütte linker Hand, und ihr Herz zog sich zusammen. Dort drüben war ihre Mutter aufgewachsen. Plötzlich scheute sie sich davor, ihren Bruder nach ihr zu fragen. Was, wenn die Wahrheit schlimmer war als die Ungewissheit?
Als die Mittagssonne immer heißer vom Himmel brannte, suchten sie sich eine schattige Waldwiese zum Rasten. Hannes hatte Brot und gekochte Erdäpfel eingepackt und breitete alles auf einem sauberen Tuch aus.
Theres kaute ohne großen Hunger auf ihrem Kanten Brot herum.
«Der Stiefvater hat gesagt, dass ich nicht mehr wiederkommen darf. Glaubst du, er hat das ernst gemeint?», fragte sie.
«Dieser Waldaffe! Der begreift ums Verrecken nicht, dass er nix mehr zu sagen hat. Es ist der Marx, der jetzt bestimmt, und der mag dich. Mir hat der Alte gleich gar nix zu sagen, und du solltest auch nicht auf ihn hören. Du bist nicht mehr sein Kind.» Seine Miene verdüsterte sich. «Ich find’s schlimm, dass du so weit weg bist. Geht’s dir wenigstens gut bei deinem Pfarrer?»
«Ja.»
«Du lügst.»
Sie wich seinem Blick aus. «Ich hab alles, was ich brauch. Esist nur – es ist so eng da. Alles so schwer und düster, so ganz ohne Freude.»
«Ohne Freude», wiederholte Hannes und starrte ins Leere.
Weitere Kostenlose Bücher