Die Bettelprophetin
Schönfärber jedenfalls tat, als habe sie ihr mit diesem Vertrag ein überaus großzügiges Geschenk gemacht und steckte ihr, nachdem sie unterschrieben hatte, auch noch ein Seidentüchlein zu – dasselbe, das Kornelie nie hatte tragen wollen, weil es von so grausig giftgrüner Farbe war. Dazu hatte es noch einen nachlässig geflickten Riss im Zipfel.
«So lasset uns denn auf Theres trinken, unser neues Stubenmädchen!»
Der Hausherr hob das Glas, und alle durften nun den sauren Burgunderwein verkosten, der einem beim Trinken den Gaumen zusammenzog.
War die Schönfärberin bis zu diesem Tag noch halbwegs bemüht gewesen, Theres etwas zu erklären oder ihr mit kühler Freundlichkeit zu begegnen, so schien ihr das von nun an nicht mehr notwendig. Vielleicht gab es ja in den Handwerkerfamilien, wo die Hausfrau noch mitarbeitete, statt das Gesinde zu überwachen wie ein Polizeidiener, mehr Gemeinschaftlichkeit, hier im Hause Schönfärber jedenfalls galt eine Magd nicht viel mehr als ein Sklave, der Befehle ohne Murren auszuführen und ansonsten Abstand zur Herrschaft zu halten hatte. Lob hörte sie nie, dafür umso häufiger Scheltworte und Vorwürfe. Bald wurden sogar die Mahlzeiten spürbar karger: Man müsse in diesen harten Zeiten das Geld zusammenhalten, hatte die Schönfärberin erklärt, und fortan waren Fleisch- und Wurststückeund andere Köstlichkeiten genau abgezählt. Für Rösle und Theres, die nach den Mahlzeiten die Reste in der Küche aßen, blieb nichts davon übrig. So begann die Köchin irgendwann, sich und Theres heimlich Butterbrote zu schmieren. Der Luxus schwarzen Kaffees am Morgen war hier dem Dienstpersonal ohnehin nicht vergönnt, und Theres dachte bisweilen sehnsüchtig an das Pfarrhaus zurück, wo sie jeden Sonntagmorgen mit dem Pfarrer ein Kännchen Kaffee genossen hatte, selbst wenn dieser gestreckt war mit Roggen und gelben Rüben.
Das Geld zusammenzuhalten galt ganz offenbar nur im Hinblick auf das Gesinde, besser gesagt: auf Rösle und Theres. Vor allem die Gäste wurden mit Leckereien wahrhaft überschüttet. So kam beinahe jeden zweiten Tag Selma Dafeldecker, die Freundin des Hauses, zur Teegesellschaft. Zumeist brachte sie noch zwei, drei andere Gäste mit, «hochinteressante Persönlichkeiten», wie sie vor aller Welt immer betonte. Dann musste Theres den Lesezirkel, wie die Schönfärberin ihren Kreis nannte, mit Ostfriesentee und Makrönchen oder frischen Mandelstückchen bedienen. Ohne das Stubenmädchen beim Aufwarten weiter zu beachten, schrieben die vornehmen Damen Leserbriefe an das Intelligenzblatt oder den Wöchentlichen Anzeiger, lasen gemeinsam in Romanen, Reisebeschreibungen oder in der Fröbel’schen Erziehungsliteratur, plauderten über Vorträge, die sie besucht hatten, oder planten ihre Spendenaktionen für arme Frauen. Alle waren sie glühende Verfechterinnen der deutschen Einheit, riefen mit Unterschriftaktionen dazu auf, sich deutsch zu kleiden, deutsch zu kaufen. «Auf dass jeder das Seinige zur Erstarkung Deutschlands beitrage!», hörte Theres einmal Alwina Schönfärber mit hoher Stimme schmettern. Dabei sprang sie tatsächlich auf den Stuhl und fuchtelte mit den Armen wie der Pfarrer auf der Kanzel.
Als der Herbst kälter wurde, wies die Hausherrin Theres an,eine halbe Stunde früher als die anderen aufzustehen, um Küche wie Wohnstube einzuheizen.
«Wir können uns doch abwechseln», hatte Rösle gutmütig vorgeschlagen.
«Auf keinen Fall. Das wird den Winter über alleinig Theres’ Aufgabe bleiben.»
Theres schwieg hierzu. Erst als die Schönfärberin außer Hörweite war, sagte sie: «Das wenigstens könnte doch die neue Haustochter übernehmen. Wozu ist die überhaupt hier?»
Rösle grinste. «Die würde doch schon mit einem halben Korb Brennholz auf der Treppe zusammenbrechen. Stinkfaul ist sie obendrein. Hält sich wohl für eine Künstlerin.»
Tatsächlich rührte Maximiliane im Haushalt keinen Finger. Stattdessen hockte sie stundenlang in der beheizten Wohnstube und malte gepresste Kräuter und Blüten ab, ohne dass ihre Zeichnungen die geringste Ähnlichkeit mit der Vorlage gehabt hätten. Auch Alwina Schönfärber schien ob der Trägheit dieses Mädchens zunehmend gereizt, ließ ihren Ärger allerdings an Theres ab, die das mit zusammengebissenen Zähnen hinnahm.
Eine Woche vor Weihnachten dann erhielt Theres den Auftrag, noch rasch vor Feierabend ins Detailgeschäft am Obertor zu laufen, um neue holländische Heringe, Fettglanzwichse
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