Die Bettelprophetin
nächsten Morgen schon wurde Maximiliane zu ihrer Familie nach Friedrichshafen zurückgebracht. Für Theres hatte die Hausherrin allerdings kein Wort der Entschuldigung übrig.
Mit Alwina Schönfärber wurde es nicht besser. Im Gegenteil – als nach Weihnachten all die Spendenaktionen und Wohltätigkeitslotterien vorerst ein Ende fanden und selbst ihr Lesezirkel in die Winterpause ging, nahm ihre Launenhaftigkeit nur noch zu. Den halben Tag verbrachte sie in ihrem Lehnstuhl am Fenster, den fetten, faulen Hauskater auf dem Schoß, und einmal hörte Theres sie zu ihrem Mann sagen: «Ach, diese schreckliche Winterzeit. Was soll ich nur den ganzen Tag machen? Nicht einmal das Lesen füllt mich mehr aus.»
Theres, die jetzt mit all dem Dreck, den die Menschen von draußen hereinschleppten, und dem ständigen Anfeuern in den verschiedenen Räumen noch mehr zu tun hatte als sonst, machte das wütend. Diese Leute hatten einfach zu viel Zeit und Müßiggang! Die lasen aus Langeweile, beteten aus Langeweile, taten Gutes aus Langeweile! Es ekelte sie an. Und ihr Mann tröstete sie auch noch!
«Der Winter geht vorbei, Alwina. Den nächsten Monat schon, hab ich gehört, ist ein bekannter Literat in Ravensburg auf Durchreise. Er hält freie Vorträge über Philosophie, speziell für das weibliche Geschlecht. Soll ich dich und Selma hierfür anmelden?»
«Das wäre reizend von dir, Konrad.»
Dieser Konrad Schönfärber war dermaßen gutmütig, dass er sich fast schon zum Trottel machte. Theres konnte sich sein unterwürfiges Verhalten nur damit erklären, dass er unglaublich stolz auf seine um so viele Jahre jüngere Frau sein musste. Gewöhnlich erfüllte er ihr jeden Wunsch, nahm sich immer Zeit für ihre Belange, und das, obwohl er als Einziger in der Familie wirklich hart zu arbeiten schien.
Aus eigener Kraft hatte er in einer ausgedienten Papiermühle unten im Ölschwang eine Baumwollspinnerei aufgezogen, die inzwischen florierte. Dazu betätigte er sich in seiner Eigenschaft als Stadtrat im Kirchenkonvent, der die Aufsicht über Schulen und Armenwesen führte, im Liederkranz sowie im «Verein zur Aufrechterhaltung der dramatischen Gesellschaft auf dem Theater». An seinen seltenen freien Abenden suchte er Unterhaltung auf dem Museum, wo man plauderte oder ausgelegte Zeitschriften und Bücher las, oder er traf sich zum Billardspiel im Kaffeehaus Hehl.
Auch für Theres wurde der Winter zur Qual. Viel zu selten kam sie hinaus, außer Rösle gab es niemanden, mit dem sie dasbisschen freie Zeit, das ihr jeden zweiten Sonntag blieb, verbringen konnte. Selbst das war vorbei, als die Köchin schließlich mit dem jungen Postpraktikanten Jeggle auszugehen begann. Ihr blieb nur noch Klaudius, der sich mit ihr unterhielt wie von gleich zu gleich und sie mitunter vor seiner Mutter in Schutz nahm.
Der einzige Lichtblick in dieser Zeit war ein ausführlicher, liebevoller Brief ihres Bruders, der gerade rechtzeitig zu Weihnachten eingetroffen war. Sie selbst hatte ihm gleich nach ihrer Ankunft in Ravensburg geschrieben und dafür das ganze Zehrgeld des Pfarrers aufgebraucht. Auf vier engbeschriebenen Blättern, die sie wieder und wieder vor dem Schlafengehen las, berichtete Hannes vielerlei Neuigkeiten aus dem Dorfleben. Leider schrieb er auch, dass ihm das Gehen in letzter Zeit noch schwerer fiel und er daher jetzt endgültig in die Schreibstube des Dorfschultes verbannt sei, aber nicht darüber klagen wolle. Dennoch machte sie sich große Sorgen um ihn.
Sosehr sie sich über den Brief ihres Bruders freute, bekümmerte es sie doch zunehmend, dass sie von Sophie nichts hörte. Wie sollte sie auch? Die Freundin wusste ja noch nicht einmal, dass Theres nun in Ravensburg war. Wie sehr sehnte sie sich nach der Gefährtin mit der fröhlichen und zugleich frechen Art.
In diesem Winter wurde Theres zum ersten Mal in ihrem Leben ernsthaft krank. Es begann mit Schluckbeschwerden und damit, dass ihr die Stimme wegblieb. Die Hausherrin kümmerte sich keinen Deut darum, wurde irgendwann sogar wütend und unterstellte ihr zu simulieren. Erst als Fieberkrämpfe sie schüttelten, durfte sie endlich im Bett bleiben. Einen Arzt bekam sie nicht zu Gesicht. Dafür brachte ihr Rösle heimlich heiße Milch mit Honig oder kräftige Brühe, die sie eigenmächtig von der Suppe abschöpfte.
Aber das Fieber stieg und stieg, trotz Rösles lauwarmer Wadenwickel.Anfangs wehrte sich Theres mit aller Kraft dagegen, in diesen seltsamen Fieberschlaf
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