Die Bettelprophetin
heimlichen Butterbrotscheibchen in der Küche oder abends im Bett, denn die Neue legte höchstens für sich selbst was auf die Seite. Außerdem ließ sie sich von Theres mit «Frollein» anreden und scheuchte die Jüngere herum, als sei sie höchstselbst die Hausherrin.
Wenn sie wenigstens gewusst hätte, wo Sophie steckte! Mit Klaudius’ Hilfe hatte sie versucht, bei den Allgaiers in Erfahrung zu bringen, wohin deren einstiges Stubenmädchen gegangen sein konnte. Aber erfolglos. Entweder wusste es niemand, oder man wollte es einfach nicht wissen. Hier in Ravensburg war sie jedenfalls niemals aufgetaucht, davon hätte sie in all den Monaten, die sie hier nun schon lebte, mit Sicherheit gehört.
In diesen Maiwochen begann Theres, innerlich zu entfliehen. Genauer gesagt: sich fortzudenken, sich an die Orte ihrer Kindheit zu wünschen, in die lichten Wälder und Wacholderheiden auf der Alb, oder auch in jene fernen Länder wie Ostindien, Madagaskar oder Persien, von denen sie in den zahllosen Reisebeschreibungen drüben im Bücherkabinett erfuhr. Dort stöberte sie nämlich inzwischen, sobald sie die Schönfärbers außer Haus wusste und die Kinder nebenan bei der Gouvernante. All die Zeichnungen mit ihren fremdartigen Landschaften, Pflanzen und Tieren, etliche davon hübsch koloriert, die faszinierenden Bilder schroffer Felsengebirge, palmengesäumter Meeresufer oder stolzer Burgen über gewundenen Flussläufen, dazwischen die furchterregenden Porträts halbnackter Wilder – all das brannte sich nach einem kurzen Blick nur in ihr Gedächtnis. Anfangs musste sie noch die Augen schließen, um diese Bilder wieder vor sich zu sehen, doch bald schon vermochte sie dies sogar mit offenem Auge, während sie die Böden schrubbte oder Staub wischte. Wie schrak sie dann jedes Mal zusammen, wenn sie von den Kindern oder ihrer Herrschaft angesprochen wurde, und einmal hörte sie die Schönfärberin zu Fräulein Euphrosina sagen: «Dieses Mädchen wird immer seltsamer. Vielleicht sollte ich mich nach einem neuen umsehen.»
Da begann Theres heimlich das Amtsblättchen zu durchforschen, in dem Mädchen zur Aufwartung gesucht wurden.«Fleißig und treu», «still und brav», «willig und bescheiden» hatten die Gesuchten zu sein, was Theres jedes Mal aufs Neue abschreckte, ihre Bewerbung in die Tat umzusetzen.
So kam der Sommer ins Land, dann der erste Herbststurm, und Theres putzte und flickte und wusch und half in der Küche wie eh und je. Dem glutäugigen Italiener hatte Konrad Schönfärber nach einem lautstarken Streit mit seiner Gattin inzwischen gekündigt – ohne dass irgendwer genau wusste, was vorgefallen war –, und Konstantia übte mit einem dicklichen, kleinen Mann deutsche Balladen ein oder sang stundenlang Kanons aus der Hering’schen Klavier- und Singschule, bis das ganze Haus entnervt war von ihrem
C-a-f-f-e-e , trink nicht so viel Kaffee! Nicht für Kinder ist der Türkentrank …
Fast zeitgleich mit dem Verschwinden von Giacomo Monteverdi hatte die Schönfärberin Theres verboten, noch einmal ohne Begleitung das Detailgeschäft am Obertor zu betreten. Anlass war ein Briefchen von Adam gewesen, das Theres unter ihrem Kopfkissen versteckt hatte. Darin hatte der junge Mann ihr in schwärmerischen Worten seine Gefühle für sie erklärt. Vor ihren Augen hatte die Hausherrin das Blatt in Fetzen gerissen.
«Was bist du nur für ein verkommenes Stück Mensch», hatte sie Theres angebelfert. «Diesem armen Burschen so schamlos den Kopf zu verdrehen! Ich werd nicht zulassen, dass du dich vor aller Welt zum Hurenweib machst.»
«Aber – ich hab nie was Schlimmes getan. Ich kann doch nichts dafür, wenn der Adam so etwas schreibt.»
«Schweig! Du lügst doch, wenn du nur den Mund aufmachst! Außerdem – glaubst du im Ernst, dass sich der junge Adam, als Erbe eines eigenen Geschäfts, mit einer hergelaufenen Magd einlässt? Wie kann man nur so dumm sein!»
Tränen der Wut waren Theres über die Wangen gelaufen.Am liebsten hätte sie der Schönfärberin entgegengebrüllt, was für eine Heuchlerin sie war und dass es schon seinen Grund habe, dass ihrem Italiener gekündigt worden sei. Aber damit wäre sie von jetzt auf nachher auf der Straße gestanden.
Vielleicht hätte Theres es ja geschafft, sich gegen die kleinen Bösartigkeiten der Schönfärberin ein dickes Fell zuzulegen, wäre in den folgenden Monaten nicht eins zum andern gekommen.
Das Geringste war noch, dass sich Adam mit der Tochter des
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