Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Beute - 2

Die Beute - 2

Titel: Die Beute - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
Pflanzenskelett, mager und von Staub weiß, war alles, was von den blühenden Pflanzenkörben übriggeblieben war! Und die Matte, selbst die Matte, ausgeblichen und von Ratten zerfressen, lag traurig da wie ein Leichentuch, das seit Jahren auf die ihm versprochene Tote wartet. Mitten in dieser stummen Verzweiflung, dieser Verlassenheit, davon die Stille weinte, fand Renée in einem Winkel eine ihrer alten Puppen; die ganze Kleie war durch ein Loch herausgerieselt, und über dem erschlafften Körper, den Puppentorheiten erschöpft zu haben schienen, lächelte der Porzellankopf noch immer mit seinen Emaillelippen.
    Renée erstickte fast in dieser jetzt verdorbenen Luft ihrer Kinderzeit. Sie öffnete das Fenster und sah in die unendliche Landschaft hinaus. Dort war nichts befleckt. Sie fand das ewige Glück, die ewige Jugend der frischen Luft wieder. Hinter ihr sank wohl gerade die Sonne; sie sah nur, wie die Strahlen des untergehenden Gestirns diesen Teil der Stadt, den sie so gut kannte, mit unendlicher Süße vergoldeten. Es war wie ein letztes Lied des Tages, ein Kehrreim voller Heiterkeit, der allmählich über allen Dingen verklang. Auf dem Hafendamm unten leuchteten gelbe Flammen auf, und das schwarze Spitzengewebe des Eisengestänges der Pont de Constantine hob sich scharf von ihren weißen Pfeilern ab. Zur Rechten bildeten die Schatten der Halles aux vins und des Jardin des Plantes eine große Lache stehenden, blühenden Wassers, dessen grünliche Oberfläche im Dunst des Horizonts verschwamm. Links zeigten der Quai Henri IV. und der Quai de la Râpée dieselbe Häuserreihe, jene Häuser, die die kleinen Mädchen schon vor zwanzig Jahren dort gesehen hatten, mit denselben braunen Flecken der Wagenschuppen, denselben rötlichen Fabrikschloten. Und hoch über den Bäumen erschien ihr plötzlich, im Sonnenuntergang bläulich schimmernd, das Schieferdach der Salpêtrière155 wie ein alter Freund. Doch was sie beruhigte, ihrer Brust Kühlung brachte, waren die langen, grauen, steilen Ufer, war vor allem die Seine, diese Riesin, die sie vom äußersten Horizont gerade auf sich zufließen sah wie in jenen glücklichen Zeiten, da sie Angst gehabt hatte, das Wasser könne anschwellen und bis zu ihrem Fenster heraufsteigen. Sie erinnerte sich, wie zärtlich sie und ihre Schwester den Fluß geliebt hatten, seine gewaltige Strömung, erinnerte sich ihres Schauders vor dem in seiner Tiefe grollenden Wasser, das sich wie ein Teppich zu ihren Füßen ausbreitete, sich hinter ihnen in zwei Arme teilte, die sie nicht mehr sehen konnten, deren große, reine Zärtlichkeit sie aber empfanden. Damals waren sie schon putzsüchtig, und an klaren Tagen sagten sie, die Seine habe ihr schönes grünes Seidenkleid mit den kleinen weißen Flammentupfen angezogen; und wo sich das Wasser in der Strömung kräuselte, schien ihnen das Kleid des Flusses mit seidenen Rüschen besetzt zu sein, indes in der Ferne, jenseits des Gürtels aus Brücken, große Lichtflecken Bahnen sonnenfarbener Stoffe ausbreiteten.
    Und Renée hob die Augen zu dem weiten Himmel auf, der sich in einem zarten, allmählich in der Dämmerung verlöschenden Blau wölbte. Sie dachte an die Seinestadt, die Mitschuldige, an die flammenden Nächte des Boulevards, an die heißen Nachmittage im Bois de Boulogne, an die zugleich fahlen und grellen Tage in dem großen neuen Palais. Als sie dann den Kopf senkte und mit einem Blick den friedlichen Horizont ihrer Kindheit überschaute, diesen alten, von Bürgern und Arbeitern bewohnten Teil der Stadt, wo sie von einem friedvollen Leben geträumt hatte, stieg eine letzte Bitterkeit in ihr auf. Mit gefalteten Händen schluchzte sie in die sinkende Nacht hinaus.
    Als Renée im Winter darauf an einer akuten Hirnhautentzündung starb, wurden ihre Schulden von ihrem Vater bezahlt. Die Rechnung bei Worms belief sich auf zweihundertsiebenundfünfzigtausend Francs.
     

Anmerkungen
    1 Kupee – zweisitzige Kutsche.
    2 Bois de Boulogne – großer Park in Paris; Napoleon III. überließ 1852 den Bois de Boulogne der Stadt Paris, die damals mehrere Millionen für seine Verschönerung ausgab.
    3 Viktoria – Luxuswagen mit aufklappbarem Verdeck.
    4 Cab – hier: zweirädrige Kutsche.
    5 Stepper – auf Stechschritt abgerichtetes Pferd.
    6 Dogcart – hier: zwei oder vierrädriger Einspänner.
    7 Aigrette – (franz.) bukettartiger Kopfschmuck aus Reiherfedern oder aus Edelsteinen.
    8 Porte de la Muette – einer der Haupteingänge zum Bois de

Weitere Kostenlose Bücher