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Die Beute - 2

Die Beute - 2

Titel: Die Beute - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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fast zwei Stunden lang von Straße zu Straße und genoß die Wollust eines Menschen, der in seinen Lastern schwelgt. Seit dem glücklichen Jahr, das er hier als Student zugebracht hatte, war er nicht mehr in Paris gewesen. Die Nacht sank herab; in dem hellen Licht, das aus den Cafés und den Schaufenstern auf die Bürgersteige fiel, wurde sein Traum immer gewaltiger; er verlor sich ganz darin.
    Als er um sich sah, stand er ungefähr in der Mitte der Rue du FaubourgSaintHonoré. Einer seiner Brüder, Eugène Rougon, wohnte in der benachbarten Rue de Penthièvre. Bei seinem Entschluß, nach Paris zu ziehen, hatte Aristide hauptsächlich mit Eugène gerechnet, der, nachdem er einer der eifrigsten Wegbereiter für den Staatsstreich gewesen war, jetzt eine geheime Macht darstellte; ein kleiner Advokat, in dem ein großer Politiker heranwuchs. Doch eine Art Spieleraberglaube hielt Aristide davon ab, schon an diesem Abend bei seinem Bruder anzuklopfen. Langsam ging er nach der Rue SaintJacques zurück, dachte dabei mit heimlichem Neid an Eugène, sah an der eigenen ärmlichen, noch vom Reisestaub bedeckten Kleidung hinunter und suchte sich damit zu trösten, daß er sich wieder seinem Traum von Reichtum zuwandte. Selbst dieser Traum war bitter geworden. Getrieben von Eroberungsdrang, froh gestimmt durch die Krämerbetriebsamkeit von Paris, war er fortgegangen, und nun kehrte er zurück, gereizt durch das Glück, das ihm überall auf der Straße zu liegen schien, und stellte sich, noch grimmiger geworden, die erbitterten Kämpfe vor, in denen er mit Wonne all die Menschen mißhandeln und betrügen würde, die ihn auf den Bürgersteigen hin und her gestoßen hatten. Noch nie hatte er einen so starken Hunger, eine so unmittelbare Begierde nach Genuß gespürt.
    Tags darauf war er schon früh bei seinem Bruder. Eugène bewohnte zwei große, dürftig eingerichtete Räume, deren Kälte Aristide erstarren ließ. Er hatte erwartet, seinen Bruder im Luxus watend vorzufinden. Eugène saß gerade an einem kleinen schwarzen Tisch bei der Arbeit. Er begnügte sich damit, lächelnd, mit seiner schleppenden Stimme zu sagen: »Ah, da bist du ja! Ich hatte dich erwartet.«
    Aristide zeigte sich sehr erbittert. Er beschuldigte Eugène, dieser habe ihn elend dahinleben lassen, habe ihm nicht einmal das Almosen eines guten Rates gegönnt, während er sich in der Provinz abrackerte. Niemals würde er es sich verzeihen können, noch bis zum 2. Dezember Republikaner geblieben zu sein; das bleibe seine unheilbare Wunde, sei auf ewig beschämend.
    Eugène hatte ruhig wieder zur Feder gegriffen. Als der Bruder geendet, meinte er: »Ach was! alle Fehler lassen sich wieder gutmachen. Du hast noch die ganze Zukunft vor dir.«
    Er sprach diese Worte mit so entschiedener Stimme, mit einem so durchdringenden Blick, daß Aristide den Kopf senkte, weil er fühlte, daß sein Bruder ihn in seinem tiefsten Wesen erkannte. Dieser fuhr mit freundschaftlicher Unumwundenheit fort: »Du bist gekommen, damit ich dir eine Stellung verschaffe, nicht wahr? Ich habe schon an dich gedacht, habe aber noch nichts gefunden. Du wirst begreifen, daß ich dich nicht überall hinstecken kann. Du brauchst einen Posten, auf dem du ohne Gefahr für dich und mich dein Glück machen kannst … Reg dich nicht auf, wir sind allein und können über gewisse Dinge offen reden.«
    Aristide entschloß sich zu lachen.
    »Oh, ich weiß, daß du klug bist«, sprach Eugène weiter, »und daß du keine unpraktische Torheit mehr begehen wirst … Sobald sich eine gute Gelegenheit bietet, werde ich dich unterbringen. Solltest du bis dahin etwas Geld brauchen, so komme ruhig zu mir.«
    Sie unterhielten sich eine Weile vom Aufstand im Süden, bei dem ihr Vater seinen Posten als Steuereinnehmer ergattert hatte. Während des Gesprächs zog sich Eugène an. Beim Abschied auf der Straße hielt er den Bruder, noch einen Augenblick zurück und sagte leise zu ihm: »Ich wäre dir dankbar, wenn du dir nicht die Schuhsohlen ablaufen, sondern ruhig zu Hause warten wolltest, bis ich die versprochene Stelle ausfindig gemacht habe … Es wäre mir nicht angenehm, meinen Bruder in den Vorzimmern zu treffen.«
    Aristide hatte Respekt vor Eugène, den er für einen fabelhaften Kerl hielt. Er verzieh ihm weder sein Mißtrauen noch seine etwas rauhe Offenheit, aber er zog sich folgsam in seine vier Wände in der Rue Saint Jacques zurück. Er war mit fünfhundert Francs angekommen, die ihm sein Schwiegervater

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