Die Beute - 2
noch immer die Puppe im Arm; sobald ihr Vater den Rücken gewandt hatte, war sie, von fröhlicher Kinderneugier getrieben, schnell in das verbotene Zimmer geschlüpft. Saccard, ganz erfüllt von dem Vorschlag seiner Schwester, sah seinen Traum jäh zerstört. Ein schrecklicher Gedanke mußte aus seinen Augen leuchten. Von Entsetzen gepackt, wollte sich Angèle im Bett verbergen, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, doch jetzt kam der Tod, das Erwachen aus dem Todeskampf war nur das letzte Aufflackern der verlöschenden Lampe gewesen. Die Sterbende vermochte sich nicht mehr zu rühren; die weitgeöffneten Augen immer noch auf ihren Mann gerichtet, wie um jede seiner Bewegungen zu überwachen, sank sie zusammen.
Saccard, der schon an irgendeine teuflische Auferstehung geglaubt hatte, vom Schicksal dazu erfunden, ihn für immer dem Elend zu verhelfen, beruhigte sich, als er sah, daß die Unglückliche keine Stunde mehr zu leben hatte. Er empfand nur noch ein unerträgliches Unbehagen. In Angèles Augen war zu lesen, daß sie die Unterhaltung ihres Mannes mit Frau Sidonie gehört hatte und nun fürchtete, von ihm erwürgt zu werden, wenn sie nicht schnell genug stürbe. Und außerdem stand in diesen Augen das ungeheure Staunen einer sanften, harmlosen Natur, die in letzter Stunde die Schändlichkeit dieser Welt gewahr wird und beim Gedanken an die langen Jahre des Zusammenlebens mit einem Verbrecher schaudert. Nach und nach sänftigte sich ihr Blick; sie empfand keine Angst mehr; vielleicht verzieh sie dem Elenden im Gedanken an seinen langen, erbitterten Kampf gegen das Schicksal. Saccard, verfolgt von den Augen der Sterbenden, in denen er einen so tiefen Vorwurf las, hielt sich an den Möbeln fest und verkroch sich in das Dunkel einer Ecke. Dann wollte er, dem Umsinken nahe, den Alpdruck verscheuchen, der ihn fast verrückt machte, und tastete sich wieder in den Lichtschein der Lampe zurück. Angèle aber bedeutete ihm durch ein Zeichen, er solle nicht sprechen. Und immer noch sah sie ihn mit jenem Ausdruck von Todesangst an, in den sich jedoch jetzt die Zusicherung der Vergebung mischte. Nun bückte sich Saccard, um Clotilde auf den Arm zu nehmen und sie ins Nebenzimmer zu tragen. Mit einer Bewegung ihrer Lippen verwies Angèle es ihm. Er sollte bei ihr bleiben. Langsam verschied sie, ohne den Blick von ihm zu lassen, und je matter ihr Auge wurde, um so sanfter wurde es. Mit dem letzten Seufzer verzieh sie ihm. Sie starb, wie sie gelebt hatte, willenlos, verlöschte so still im Tode, wie sie im Leben immer still beiseite getreten war. Saccard sah schaudernd in diese Totenaugen, die, weit geöffnet, ihn immer noch mit ihrem reglosen Blick verfolgten. Auf dem Bettrand wiegte die kleine Clotilde ganz leise, um die Mutter nicht zu wecken, ihre Puppe.
Als Frau Sidonie zurückkehrte, war alles vorüber. Wie eine Frau, die an derlei Verrichtungen gewöhnt ist, drückte sie mit einer einzigen Fingerbewegung Angèle die Augen zu, wodurch Saccard sich sehr erleichtert fühlte. Sie brachte die Kleine zu Bett und schuf dann im Handumdrehen Ordnung im Sterbezimmer. Nachdem sie zwei Kerzen auf der Kommode angezündet und der Toten das Leintuch sorgfältig bis zum Kinn heraufgezogen hatte, sah sie sich befriedigt um und machte es sich in einem Lehnstuhl bequem, wo sie bis zum Tagesanbruch schlummerte. Saccard verbrachte im Nebenzimmer die Nacht damit, die Todesanzeigen zu schreiben. Hin und wieder unterbrach er sich dabei, vergaß das Geschehene und malte lange Zahlenreihen auf kleine Zettel.
Am Abend des Begräbnistages nahm Frau Sidonie den Bruder mit in ihre Zwischenstockwohnung. Hier wurden wichtige Entschlüsse gefaßt. Der Beamte beschloß, die kleine Clotilde zu einem seiner Brüder zu schicken, zu Pascal Rougon, der in Plassans Arzt war, dort der Wissenschaft zuliebe ein Junggesellendasein führte und Aristide schon öfter angeboten hatte, die Nichte zu sich zu nehmen, damit es in seinem stillen Gelehrtenhaus heiterer würde. Dann gab Frau Sidonie Aristide zu verstehen, daß er nicht in der Rue Saint Jacques wohnen bleiben könne. Sie werde ihm für die Dauer eines Monats eine elegant möblierte Wohnung in der Nähe des Hôtel de Ville mieten; sie wolle versuchen, eine solche Wohnung in einem gutbürgerlichen Haus zu finden, damit man den Eindruck gewänne, die Möbel seien sein Eigentum. Die Einrichtung in der Rue SaintJacques müsse verkauft werden, um die Spuren der Vergangenheit endgültig auszulöschen. Mit dem Erlös
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