Die Beute - 2
großes Mitleid; er lief, um sie zu necken, täglich viermal zu ihr hinauf und fragte mit verzweifelten Gebärden nach ihrem Befinden. Am dritten Tag fand er sie dann im kleinen Salon, rosig, lächelnd, friedlich und ausgeruht.
»Nun, hast du dich gut mit Céleste amüsiert?« fragte er, auf ihre lange Zweisamkeit mit der Kammerzofe anspielend.
»Ja«, antwortete Renée, »sie ist ein ausgezeichnetes Mädchen. Sie hat immer eiskalte Hände; die hat sie mir auf die Stirn gelegt und meinem armen Kopf dadurch ein wenig Ruhe verschafft.«
»Aber dann ist sie ja geradezu eine Medizin, dieses Mädchen!« rief der junge Mann. »Wenn mir jemals das Unglück zustoßen sollte, mich zu verlieben, würdest du sie mir wohl leihen, nicht wahr, damit sie beide Hände auf mein Herz legt!«
Sie scherzten und machten ihre gewohnte Ausfahrt in den Bois de Boulogne.
Vierzehn Tage verstrichen. Renée hatte sich noch toller in das von Besuchen und Bällen ausgefüllte Leben gestürzt. Sie schien wieder einmal anderen Sinnes geworden zu sein und klagte nicht mehr über Müdigkeit und Überdruß. Man hätte lediglich annehmen können, sie habe einen geheimen Fehltritt begangen, von dem sie zwar nicht sprach, den sie aber durch betontere Selbstverachtung und eine noch gewagtere Verderbtheit ihrer Weltdamenlaunen eingestand. Eines Abends eröffnete sie Maxime, daß sie für ihr Leben gern auf einen Ball gehen würde, den Blanche Muller, eine gerade sehr beliebte Schauspielerin, den Rampenprinzessinnen und den Königinnen der Halbwelt gab. Dieses Geständnis überraschte sogar den jungen Mann und setzte ihn in Verlegenheit, obwohl er durchaus nicht gerade prüde war. Er hielt seiner Stiefmutter eine Rede: das sei wirklich keine Gesellschaft für sie; übrigens würde sie dort nichts Besonderes zu sehen bekommen, und wenn sie dort erkannt würde, gäbe es einen Skandal. Auf all diese stichhaltigen Gründe erwiderte Renée nur mit gefalteten Händen, flehend und lächelnd: »Komm, mein kleiner Maxime, sei nett! Ich will es doch … Ich werde einen ganz dunklen Domino anziehen, und wir gehen nur einmal durch die Säle.«
Als Maxime, der zu guter Letzt stets nachgab und seine Stiefmutter, sofern sie ihn darum gebeten hätte, an alle verrufenen Orte von Paris begleitet haben würde, einwilligte, mit ihr auf Blanche Mullers Ball zu gehen, klatschte sie in die Hände wie ein Kind, dem man ein unerwartetes Vergnügen gewährt.
»Ach, du bist nett«, sagte sie. »Also morgen, nicht wahr? Hol mich rechtzeitig ab. Ich möchte sehen, wie diese Damen ankommen. Du wirst mir ihre Namen nennen, und wir werden uns herrlich amüsieren …«
Nach kurzem Nachdenken fügte sie hinzu: »Nein, komm lieber nicht, du erwartest mich besser in einer Droschke auf dem Boulevard Malesherbes. Ich werde durch den Garten gehen.«
Diese Geheimtuerei erhöhte für sie den Reiz dieses Streichs, war einfach eine Steigerung des Genusses; denn sie hätte ihr Haus um Mitternacht durch das große Portal verlassen können, ohne daß ihr Mann auch nur den Kopf aus dem Fenster gesteckt hätte.
Am nächsten Tag eilte sie, nachdem sie Céleste befohlen hatte, ihre Rückkehr abzuwarten, von Schauern köstlicher Angst überrieselt, durch die schwarzen Schatten des Parc Monceau.
Saccard hatte sein gutes Einvernehmen mit dem Hôtel de Ville dazu benutzt, sich den Schlüssel zu einem kleinen Parktor geben zu lassen. Renée hatte ebenfalls einen verlangt. Fast hätte sie sich verlaufen, sie entdeckte die Droschke nur dank der zwei gelben Laternenaugen. Damals war der eben erst vollendete Boulevard Malesherbes abends noch eine wahre Einöde.
Die junge Frau schlüpfte in den Wagen, sehr aufgeregt und mit so süßen Herzklopfen, als ginge es zu einem Stelldichein. Maxime lehnte halb schlafend in einer Wagenecke und rauchte seelenruhig seine Zigarre. Er wollte sie wegwerfen, doch Renée hinderte ihn daran, und als sie in der Dunkelheit seinen Arm zurückzuhalten versuchte, geriet sie ihm mit der Hand mitten ins Gesicht, worüber beide herzlich lachen mußten.
»Ich versichere dir, daß ich den Tabakgeruch gern mag«, rief sie. »Rauche ruhig weiter … Außerdem wollen wir heute abend zusammen schlemmen … Und dann bin ich der Mann!«
Der Boulevard war noch nicht beleuchtet. Während die Droschke zur Madeleine hinunterfuhr, war es im Wagen so dunkel, daß sie einander nicht sehen konnten. Für Augenblicke, wenn der junge Mann die Zigarre an den Mund führte, bohrte sich ein roter
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