Die Beute - 2
Ausschweifung besonders günstig waren.
Wenn die große Kalesche sie in den Bois de Boulogne trug und sie sanft durch die Alleen fuhr, indes sie einander Zweideutigkeiten zuflüsterten, die Triebverirrungen ihrer Kinderjahre auskramten, war das nichts anderes als ein Irregehen, eine noch uneingestandene Stillung ihrer Begierden. Sie fühlten sich irgendwie schuldig, als hätten sie einander berührt, und selbst diese Erbsünde, dieses Verlangen nach schlüpfrigen Gesprächen, die eine wollüstige Mattigkeit in ihnen zurückließen, verschaffte ihnen einen süßeren Kitzel als unzweideutige, tatsächliche Küsse. So wurde ihre Kameradschaftlichkeit zu einem langsamen Dahinschlendern zweier Liebender, das sie unausbleiblich eines Tages in das Séparée des Café Riche und in das grau und rosafarbene Bett Renées führen mußte. Als sie jetzt einander in den Armen lagen, erschütterte sie kein Schuldgefühl. Man hätte sie für zwei Menschen halten können, die einander schon lange lieben und deren Küsse voll Wiedererinnern sind. Und sie hatten schon so viele Stunden inniger Bindung ihres ganzen Wesens miteinander verbracht, daß sie unwillkürlich von dieser Vergangenheit voll unbewußter Liebe plauderten.
»Erinnerst du dich noch des Tages, an dem ich nach Paris kam?« fragte Maxime. »Du hattest ein so komisches Kostüm an, und ich zeichnete mit dem Finger ein Dreieck auf deine Brust und riet dir, den Ausschnitt spitzer machen zu lassen … Damals habe ich deine Haut durch die Bluse gefühlt, und mein Finger drückte ein wenig zu … Ach, tat das gut!«
Lachend küßte ihn Renée und flüsterte: »Du warst schon damals ganz hübsch verdorben. Wie hast du uns doch bei Worms amüsiert, weißt du noch? Wir nannten dich ›unseren kleinen Mann‹. Und ich glaube immer noch, daß die dicke Suzanne damals zu allem bereit gewesen wäre, wenn die Marquise sie nicht mit wütenden Blicken überwacht hätte …«
»Ach ja, wie haben wir gelacht …«, sagte der junge Mann leise. »Das Photographiealbum, nicht wahr, und alles andere, unsere Fahrten durch Paris, unsere Frühstücke beim Konditor auf dem Boulevard. Weißt du noch, die kleinen Erdbeertörtchen, die du so besonders gern mochtest? … Ich werde stets an jenen Nachmittag denken, wo du mir Adelines Klosterabenteuer erzählt hast, wie sie an Suzanne schrieb, ihre Briefe als Mann mit ›Arthur d’Espanet‹ unterzeichnete und ihr den Vorschlag machte, sie zu entführen.«
Die Liebenden erheiterten sich von neuem an dieser netten Geschichte; dann fuhr Maxime mit seiner Schmeichelstimme fort: »Wenn du mich mit deinem Wagen vom Gymnasium abholtest, müssen wir zwei recht komisch gewirkt haben … Ich verschwand ja fast unter deinen Röcken, so klein war ich damals noch.«
»Ja, ja«, stammelte sie und zog leise bebend den jungen Mann zu sich, »es war sehr schön, da hast du recht … Wir liebten uns, ohne es zu wissen, nicht wahr? Aber ich habe es früher gewußt als du. Als wir neulich aus dem Bois de Boulogne zurückkamen, habe ich dein Bein gestreift, und da durchfuhr es mich … Aber du hast wohl gar nichts gemerkt? Du hast wohl nicht einmal an mich gedacht?«
»O doch«, erwiderte er etwas verlegen. »Nur wußte ich nicht, du verstehst … Ich wagte es nicht.«
Er log. Der Gedanke, Renée zu besitzen, war nie deutlich in ihm aufgestiegen. Er hatte sie mit seiner ganzen Lasterhaftigkeit berührt, ohne sie ernstlich zu begehren. Für eine solche Anspannung war er viel zu schlapp. Er hatte Renée genommen, weil sie sich ihm aufgedrängt hatte und weil er, ohne es zu wollen, ohne es vorauszusehen, in ihr Bett gesunken war. Einmal hineingelangt, blieb er dort, weil es da warm war und weil er überall da liegenblieb, wohin er fiel. Anfangs empfand er sogar so etwas wie befriedigte Eigenliebe. Renée war die erste verheiratete Frau, die er besaß. Er dachte nicht darüber nach, daß ihr Gatte sein Vater war. Renée aber legte die ganze Leidenschaft eines verkommenen Herzens in ihre Sünde. Auch sie war auf der schiefen Bahn ausgeglitten, nur war sie nicht wie ein gefühlloser Fleischklumpen bis ans Ende gerollt. Die Begierde war zu spät in ihr erwacht, um sie noch bekämpfen zu können, als der Sturz unvermeidlich wurde. Dieser Sturz erschien ihr plötzlich wie die notwendige Folge ihrer Langenweile, wie ein erlesener und höchster Genuß, der allein ihre erschlafften Sinne, ihr wundes Herz zu neuem Leben erwecken konnte. Bei jener herbstlichen Spazierfahrt, als
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