Die Beute
surrealistischer Maler vorstellte – gebündelte Schwaden von Dunkelheit, die sich auf schlangenhafte Art bewegten. Blauweißes Licht, das undeutliche Segmente
eines Körpers miteinander verband. Eine Kombination aus Schlange und Gewitterblitz.
Sie kam auf ihn zu wie eine große, sich krümmende Raupe. Sie war mindestens drei Meter lang.
Jetzt war Zach hellwach. Wenn ich sie in die Ecke treiben könnte, überlegte Zach … Er schaute in die Ecke der Garage, in der seine Spiegelreflexkamera auf einem Stativ stand. Wenn er es dorthin schaffte, könnte er sicher ein Foto von der Schlange machen.
Er war nicht dumm. Er erkannte durchaus die Gefahr, in der er sich befand. Aber der Gedanke, dieses Ding zu fotografieren – es auf einem Foto betrachten zu können –, verdrängte alle anderen Gedanken aus seinem Kopf.
Es war das erste Mal seit dem Tag des Papierhausspiels, dass er wieder Lust hatte zu fotografieren. Urplötzlich verschwand seine Blockade und seine Kreativität kehrte zurück. Dies war reale Irrealität. Es mochte gefährlich sein, aber es war auch auf seltsame Weise schön. Es war Kunst.
Und er wünschte sich verzweifelt, es einzufangen.
Versuch es zuerst mit der Kleinbildkamera, sagte er sich. Die ist näher. Mit Blick auf das wunderbar kunstvolle Ungeheuer griff er nach dem Fotoapparat auf dem Schreibtisch.
Die Uhr in Dees Jeep zeigte fünf Uhr fünfundvierzig an. Über eine Stunde später als in Jennys Traum.
»Oh Gott, wir werden zu spät kommen«, flüsterte sie.
Und es war ihre Schuld. Trotz Julians Warnung war sie nicht rechtzeitig aufgewacht.
»Beeil dich, Dee! Beeil dich!«
Vor der flamingofarbenen Morgendämmerung zeichneten sich bereits die Silhouetten der Bäume ab, als sie endlich Zachs Haus erreichten.
»Lasst uns durch die Garage gehen«, schlug Tom vor, während alle aus dem Jeep sprangen. »Als ich das letzte Mal hier war, war die Tür unverschlossen.«
So dumm war Zach heute Nacht sicher nicht, dachte Jenny, aber für Einwände blieb keine Zeit. Sie folgte den anderen im Laufschritt zur Seitentür der Garage. Tom öffnete sie und sie stürzten hinein.
Das Garagenlicht brannte. In der Luft lag ein seltsamer, scharfer Geruch. Auf dem Boden war ein dunkler Kreis aus Ruß.
Und in der Mitte des Kreises saß eine Papierpuppe mit grauen Augen.
»Zu spät«, sagte Jenny einfältig und schaute auf den Papierpuppen-Zach in ihrer Hand. Die Puppe starrte zurück, die feinen Linien ihres Gesichtes von Zachs künstlerischer Hand gestaltet. Die mit Bleistift gezeichneten Augen wirkten leicht überrascht.
Dee verrieb den Ruß zwischen den Fingern. Tom stand vor der Ecke, in der Zachs Spiegelreflexkamera und ein umgekippter Scheinwerfer auf dem Boden lagen.
»Es hat einen Kampf gegeben«, stellte er fest.
Michael leckte sich nur die Lippen und zitterte.
»Seine Eltern haben offenbar nichts gehört«, murmelte Jenny. »Sonst wären sie nach unten gekommen. Also hinterlassen wir ihnen am besten eine Nachricht – von Zach, dass er schon in der Schule ist.«
Michaels Stimme war gedämpft. »Du bist verrückt. Wir können das nicht durchziehen. Irgendwann werden einige Eltern miteinander reden …«
»Was nützt denn meiner Tante und meinem Onkel das Wissen, dass Zach verschwunden ist? Was könnten sie schon tun?«
»Uns in orangefarbene Overalls stecken«, bemerkte Dee trocken, die auf dem Boden hockte. »Zu viele verschwundene Kids«, erklärte sie. »Wenn wir noch weitere Freunde verlieren, wandern wir ins Gefängnis. Aber jetzt kommt, hört auf zu reden und lasst uns von hier verschwinden.« Bevor sie gingen, stahl Jenny sich noch ins Haus und schrieb die Notiz.
»Ich weiß gar nicht, ob wir überhaupt in die Schule können«, sagte Tom, als sie wieder im Wagen saßen. »Nicht wenn wir zusammenbleiben wollen.«
»Dann werden wir uns wohl den Tag freinehmen müssen« , erwiderte Dee. »Oh, wie schade.«
Michael warf ihr einen wütenden Blick vom Beifahrersitz zu. »Dir macht das auch noch Spaß, was?«
Sie schenkte ihm ein unfreundliches Lächeln.
»Wir müssen herausfinden, wo der Stützpunkt ist«,
sagte Jenny, die auf der Rückbank saß. Diesmal hatte sie sich wenigstens unter Kontrolle gehabt, dachte sie: kein Geschrei oder Geheule, selbst als sie die Papierpuppe von Zach erblickte. Aber ein starkes Schuldgefühl quälte sie trotzdem. »Bis jetzt war ich nicht sehr gut darin, die Hinweise zu deuten«, sagte sie so gefasst wie möglich.
»Weil Julian es so
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