Die Beute
sich veränderte, und dann wandte er den Blick seiner distanzierten grauen Augen ab.
»Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Bild und Realität zu kennen«, sagte er leise. Er sah sie wieder von der Seite an, als überlege er, ob er noch ein weiteres Geheimnis lüften sollte – ob er ihr vertrauen konnte. Dann sagte er beinahe beiläufig: »Weißt du, ich habe immer gedacht, dass imaginäre Welten sicherer wären als die reale Welt. Und dann habe ich eine reale imaginäre Welt gesehen. Und es war …« Er brach ab.
Jenny war verblüfft über seinen Gesichtsausdruck. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich weiß.«
Er sah sie an. »Erinnerst du dich, wie wir als Kinder im Kirschgarten gespielt haben? Damals schien es nicht wichtig zu sein, den Unterschied zwischen real und nicht real zu kennen. Aber jetzt ist es wichtig. Für mich ist es wichtig.«
Oh. Mit einem Schlag verstand Jenny. Kein Wunder, dass Zach in letzter Zeit so launisch gewesen war. Seine Fotografie, seine Kunst – sie war nicht länger sicher. Sie war von dem Experiment in der Schattenwelt infrage gestellt worden. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte Zach sich nicht mehr in die Geborgenheit
seiner imaginären Welten flüchten – zum ersten Mal musste Zach sich der Realität voll und ganz stellen.
»Das ist der Grund, warum du keine neuen Fotos mehr gemacht hast«, sagte sie. »Nicht wahr, Zach? Es – es ist eine kreative Blockade.«
Er zuckte erneut mit einer Schulter. »Ich habe einfach nichts gesehen, was ich fotografieren wollte. Früher habe ich ständig irgendwelche Dinge gesehen – aber in letzter Zeit ist mir einfach alles gleichgültig.«
»Das tut mir leid, Zach.« Aber ich bin froh, dass du es mir erzählt hast, dachte Jenny. In diesem Moment fühlte sie sich ihrem Cousin sehr nah. Dann fügte sie leise hinzu: »Vielleicht wenn all dies vorüber ist …«
Eine Tür schlug auf und unterbrach sie. Der stille Augenblick war vorbei. Zachs Vater stand in der Tür.
Er sagte Jenny nur kurz Hallo, dann drehte er sich zu Zach um.
»Hier bist du also«, sagte er. »Wieso warst du letzte Nacht einfach weg, ohne Bescheid zu sagen?«
Jenny war sich nicht sicher, ob sie Onkel Bill mochte. Er war ein massiger Mann mit großen, behaarten Händen. Sein Gesicht sah immer ziemlich rot aus.
Zachs Stimme war unterkühlt. »Ich habe bloß irgendwo anders übernachtet. Ist das ein Verbrechen?«
»Wenn du es deiner Mutter oder mir nicht sagst, ja.«
»Ich habe einen Zettel dagelassen.«
Onkel Bills Gesicht wurde noch röter. »Ich rede nicht von einem Zettel. Ich weiß nicht mehr, was mit dir los
ist. Früher hast du die meiste Zeit hier drin verbracht« – er deutete auf die Garage – »und jetzt bist du ständig unterwegs. Und deine Mutter hat mir eben gesagt, dass du eine weitere Nacht außer Haus verbringen willst.«
»Ich muss für ein Projekt arbeiten …«
»Das kannst du auch hier. Du wirst nirgendwo anders übernachten, wenn am nächsten Tag Schule ist. Schlag dir das aus dem Kopf.«
Jennys Magen fühlte sich an wie im freien Fall. Sie kramte verzweifelt nach einer Ausrede. Aber sie sah ihrem Onkel schon an, dass das nichts nutzen würde. Er war genauso stur wie Zach, noch sturer.
Da knallte die Tür zu und er war verschwunden.
Jenny wirbelte entsetzt herum. »Was machen wir jetzt?«
»Gar nichts.« Mit abgewandtem Gesicht schlug Zach das Kunstbuch zu und stellte es in das Regal.
»Aber Zach, wir müssen …«
»Wenn du mit ihm streitest, wird er nur noch wütender werden – und fängt vielleicht an herumzutelefonieren. Willst du, dass er mit deinen Eltern redet?« Er drehte sich wieder um, einen gelassenen Ausdruck auf seinem schmalen Gesicht, wenngleich Jenny dachte, dass seine Augen ein wenig gerötet aussahen. »Gefährde bloß nicht unseren Plan, Jenny. Vielleicht lassen sie mich morgen gehen.«
»Aber heute Nacht …«
»Ich komme schon zurecht. Pass du auf dich auf, in Ordnung?« Als Jenny ihm eine Hand auf den Arm legen
wollte, fügte er hinzu: »Erzähl den anderen, was passiert ist, ja? Ich werde einfach eine Weile hierbleiben. Und ein bisschen arbeiten.«
Jenny ließ ihre Hand wieder sinken. »Okay, Zach«, murmelte sie leise. Sie blinzelte. »Mach’s gut. Ich meine – wir sehen uns später.« Sie drehte sich um und verließ schnell die Garage.
»Was jetzt?«, fragte Dee, als sie wieder in der Wohnung waren. Die Stimmung war gedämpft.
»Jetzt bestellen wir Pizza und warten«, sagte
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