Die Beute
Binde um Michaels Knöchel fester.
»Wenn sogar Dee ihm nicht entkommen konnte, welche Chance haben wir dann noch?«
Jenny befestigte kleine Metallclips an dem Verband und lehnte sich zurück.
»Die Hinweise sind nicht fair «, sprach Michael weiter. Er atmete immer noch schwer, und seine Augen waren so geweitet, dass das Weiß um die dunkle Iris deutlich hervortrat. »Du hast gesagt, dass ihr direkt in die Garage gerannt seid, nachdem ihr diesen Hinweis bekommen habt – also hattet ihr nicht genug Zeit. Er wird keinem von uns genug Zeit geben. Und wir werden den Stützpunkt niemals finden.«
Jenny schloss den Erste-Hilfe-Kasten aus Plastik. Die Papierpuppe lag auf dem Couchtisch daneben. Auf dem Rücken, was überhaupt nicht typisch war für Dee. Die schwarzen Bleistiftaugen starrten mit einem listigen Blick zur Decke empor.
Sie hatten Audreys Wagen in den hintersten Teil der Garage geschoben, wo ihn hoffentlich niemand finden würde. Vermutlich konnten sie sich glücklich schätzen, dass niemand gekommen war und niemand den Unfall untersuchte, fand Jenny – aber spielte das überhaupt noch eine Rolle? Spielte irgendetwas noch eine Rolle?
»Rede ich hier mit mir selbst, oder was? Will denn niemand etwas sagen?«
Jenny sah erst Michael an, dann Tom, der im Flur auf und ab ging, ohne die anderen zu beachten. Sie drehte sich wieder zu Michael um und für einen Moment blickten sie einander schweigend in die Augen. Dann ließ er sich in die Sofakissen sinken und seine Wut verebbte.
»Was gibt es da noch zu sagen?«, fragte Jenny.
Den Rest des Abends verbrachten sie schweigend. Tom lief weiter auf und ab, während Michael und Jenny dasaßen und auf den leeren Fernsehbildschirm starrten.
Bald würde alles zusammenstürzen – ihr sorgfältig aufgebautes Täuschungskonstrukt. Jenny hatte ihre Tante Lily angerufen, um ihr zu sagen, dass Zach sehr durcheinander sei und die Nacht bei Tom verbringen werde. Dees Mutter hatte sie erzählt, dass Dee bei ihr übernachten werde. Keine der beiden Mütter war darüber glücklich gewesen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eine von ihnen bei Tom oder Jenny zu Hause anrief und alles herauskam.
Und Michael hatte recht. Sie würden den Stützpunkt nie finden – nicht mithilfe der Informationen, die sie bis jetzt hatten. Sie brauchten mehr.
In dieser Nacht war sie tatsächlich froh, als Julian in ihren Träumen auftauchte.
Sie hatte lange gebraucht, um einzuschlafen – stundenlang hatte sie die leere Couch angestarrt, auf der Dee liegen sollte. Das Letzte, woran sie sich deutlich erinnerte, war ihre eigene Feststellung, dass sie in dieser Nacht kein Auge zutun würde – und dann mussten ihr die Augen zugefallen sein. Als sie sie öffnete, wusste sie, dass das nicht wirklich geschah. Sie träumte wieder.
Sie befand sich in einem weißen Raum. Julian stand vor einem Tisch, auf dem etwas äußerst Merkwürdiges aufgebaut war. Eine Art Modell mit Häusern, Bäumen,
Straßen und Straßenlaternen. Wie eine Modelleisenbahn, nur ohne die Eisenbahn, dachte Jenny. Aber es war das kunstvollste Modell, das sie je gesehen hatte; die Miniaturbäume und Büsche waren naturgetreu geformt, und die kleinen Häuser hatten erleuchtete Fenster.
Nicht irgendein Modell, begriff Jenny. Es ist Vista Grande – mein Wohnviertel. Und dort ist mein Haus.
Julian hielt eine kleine Wolfsfigur über eine der Straßen. Er setzte die Figur vorsichtig ab, dann sah er Jenny lächelnd an.
Jenny erwiderte das Lächeln nicht. Obwohl sie träumte, war ihr Kopf völlig klar – und sie hatte ein Ziel vor Augen. Sie wollte alle Informationen von ihm haben, die sie bekommen konnte.
»Ist das die Art, wie du ihnen sagst, was sie tun sollen? Dem Wolf und der Schlange?«
»Möglicherweise.« Genauso ernst wie sie ihre Frage gestellt hatte, fragte er zurück: »Was ist innen schwarz, außen weiß und heiß?«
Jenny öffnete den Mund, um zu antworten, dann schloss sie ihn wieder und warf ihm einen typischen Audrey-Blick zu, wie ihn Michael regelmäßig abbekam. »Was?«, fragte sie mit fester Stimme.
»Ein Wolf im Schafspelz.«
»Ist es das, was du bist?«
»Ich? Nein, ich bin ein Wolf im Wolfspelz.« Er sah sie an und seine wilden, exotischen saphirblauen Augen blitzten auf.
Ich weiß nicht, wie ich ihn je für einen Menschen halten konnte, dachte Jenny. Julian war von einer viel älteren, wilderen Rasse. Eine Rasse, die Menschen von Anfang an fasziniert und verängstigt hatte.
»Ich werde mich
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