Die Beute
er zudem noch beunruhigt. Er stand auf und ging, die Hände in den Hosentaschen, zur Küche.
»Wenn du etwas weißt …«, hakte Dee nach.
»Nein. Nichts.« Tom kam zurück, schüttelte den Kopf und setzte sich wieder.
»Okay, noch mal von vorn«, sagte Michael.
Aber es half nichts. Sie redeten und redeten den ganzen Tag, ohne weiterzukommen, bis eine ältere Frau an der Tür klingelte und verlangte, dass Michael Audreys Wagen wegfuhr, weil er auf ihrem Parkplatz stand.
Dee ging mit ihm nach unten. Tom lief langsam im Flur auf und ab, während Jenny auf dem Sofa saß und ziellos aus dem Fenster starrte. Sie steckten fest, sie waren dem Stützpunkt noch keinen Schritt näher gekommen.
Jenny war müde. Sie schloss die Augen. Unter den Lidern konnte sie das Sonnenlicht des goldenen Nachmittags sehen. Dann wurde es plötzlich dunkler.
Jenny riss die Augen wieder auf. Obwohl es ein heller, wolkenloser Tag war, bedeckte jetzt eine Art von Nebel das Fenster. Sie konnte nicht mehr hinausschauen. Jenny starrte den Nebel an, ihr Puls beschleunigte sich, dann atmete sie tief ein und beugte sich näher heran.
Es war kein Nebel – was schon seltsam genug gewesen wäre. Es war Eis.
Der Atem des Frostkönigs, hatte ihre Mutter in Pennsylvania immer gesagt, wenn die Fenster derart vereist gewesen waren. Zum letzten Mal hatte Jenny so etwas mit fünf Jahren gesehen. Damals hatte sie es geliebt, mit ihrem warmen Finger irgendwelche Dinge in den Frost zu malen …
Plötzlich erschien etwas auf dem Fenster, wie von einem unsichtbaren Finger in das Eis gezeichnet. Ein Buchstabe.
L
Jenny konnte kaum atmen. Sie öffnete den Mund, um nach Tom zu rufen, aber es kam kein Laut heraus.
ITTLE …
Little. Klein. Die Buchstaben erschienen ganz langsam, einer nach dem anderen.
MISS MUFFET SAT …
Jenny beobachtete wie erstarrt das Fenster und ihre Kopfhaut kribbelte. Sie konnte sich nicht bewegen. Es war zu mysteriös, hier mitten am Tag zu sitzen und etwas zu sehen, das einfach unmöglich war.
ON A TUFFE TEA TINGHER …
Das bin ich, dachte Jenny, ohne genau zu wissen, woher diese Überzeugung kam. Diesmal ist er hinter mir her. Ich bin Miss Muffet.
CURDS AND WHEY ALONG CAME A SPIDER …
Immer noch außerstande, sich zu bewegen, schaute Jenny nach oben. Eine Spinne. Sie hatte Angst vor Spinnen und Grillen und allem krabbelnden, springenden Getier. Sie wartete nur darauf, dass ein Faden von der Decke herunterkam. Aber es kam nichts.
AND SAT DOWN BESIDE HER …
Die Spinne. The Spider, dachte Jenny. Audreys Wagen.
»Tom«, flüsterte sie, und dann – endlich – fiel die Erstarrung von ihr ab. Sie sprang auf und riss den Blick von den Buchstaben los, die immer noch am Fenster erschienen. »Tom, komm hierher. Tom !«
Als sie losrannte, fiel sie fast über den Hocker, auf dem Dee zuvor gesessen und Hüttenkäse gegessen hatte. Curds and whey. Quark und Molke.
»Blöde alte Kuh«, sagte Michael, als Dee den Spider aus dem Carport fuhr. »Sie selbst benutzt diesen Parkplatz nie, aber sie lässt auch sonst niemanden hier parken. Gott bewahre! Jetzt müssen wir den ganzen Weg bis zur Tiefgarage fahren – lass uns links um die Müllcontainer herum abkürzen.«
»Ich wusste nicht mal, dass zu der Wohnung eine Garage gehört«, meinte Dee.
»Dad und ich benutzen sie nie«, erklärte Michael, als Dee eine Rampe hinunterfuhr. »Die Carports sind viel bequemer.«
»Aber es ist wahrscheinlich sogar besser, wenn Audreys Wagen hier unten steht. Eigentlich könnten wir alle Autos hierher bringen – falls jemand sie vor deiner Wohnung bemerkt, ist sofort klar, dass wir alle hier sind. Daran hätten wir schon früher denken sollen.«
»Schätze, ja«, sagte Michael wenig begeistert. »Als ich klein war, habe ich diese Garage immer gehasst. Ich habe mir eingebildet, dass ein Drache darin säße.«
Dee grinste. »Es ist nur eine Garage, Mikey.« Aber er hat gar nicht so unrecht, dachte sie. Die Garage hatte etwas Unangenehmes an sich. Sie war schäbig und schlecht beleuchtet, und Dee konnte sich gut vorstellen,
dass hier ein Kind mit lebhafter Fantasie an Drachen dachte.
Mach dich nicht lächerlich, sagte sie sich, es ist helllichter Tag. Aber das stimmte gar nicht. Jedenfalls nicht in der unteren Etage der Tiefgarage, wo sie gerade um die Ecke bogen und düsteres Zwielicht herrschte, durchsetzt von dem Flackern der bläulichen Leuchtstoffröhren.
Ein seltsames und unnatürliches Zwielicht. Noch während Dee dieser
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