Die Beutefrau
von überall her. Staunend beobachtete Gerswind, wie Papst Leo Karl mit gesenktem Haupt in höchster Demut entgegeneilte. Nichts erinnerte mehr an den hochmütigen Mann, den sie in Trier auf dem Podest thronend erlebt hatte.
Den müden Reisenden wurden fürstliche Räume zur Erholung bereitgestellt, und am nächsten Tag empfing der Papst den Frankenkönig ganz offiziell auf den Stufen der Peterskirche und geleitete ihn zu Psalmengesängen in den Dom hinein.
»Einen Kaiser hätte man nicht ehrenvoller empfangen können«, sagte Gerswind scherzend, als sie in jener Nacht in Karls Zimmer kam, weil er sie hatte rufen lassen.
»Schweig!« fuhr er sie an.
Erschrocken erhob sie sich sofort wieder von dem mit Gold verzierten Sessel, den er ihr nahe seinem zurechtgerückt hatte.
»Du wirst schon das Richtige tun«, murmelte sie und zog sich in das Nebenzimmer zurück, das ihr zu ihrer alleinigen Nutzung für den Aufenthalt in Rom zugewiesen worden war.
Karl schlief in dieser Nacht überhaupt nicht. Er wußte, daß er keine andere Wahl hatte, als seine schützende Hand über Leo zu halten.
Schon an diesem zweiten Tag hatte er in Erfahrung gebracht, daß es trotz erdrückender Beweise zu keiner Anklage kommen würde, da niemand bereit war, öffentlich gegen den Papst auszusagen. Wie schnell konnte in einem solchen Fall aus einem Kläger ein Angeklagter werden! Und er hatte auch gehört, daß man schon über einen Nachfolger Leos munkelte, einen Griechen, der Träumen von einem mächtigen Byzanz nachhing und Karls Gedanken eines westlichen Herrscherreichs mit Sicherheit so feindlich gegenüberstand, daß er alles daransetzen würde, das oströmische Kaisertum zu stärken. Selbst wenn er dafür Irene aus dem Weg räumen lassen müßte. Karl gestand sich nur ungern ein, daß ihm da Leo doch lieber war.
In den nächsten Tagen sollten auf einer vom König in der Peterskirche einberufenen Versammlung zwar die dem Papst zur Last gelegten Verbrechen abgehandelt werden, doch selbst nach Wochen kam das Tribunal zu keinem Ergebnis. Niemand wagte es, den Apostolischen Stuhl zu richten. Karl dachte an die Gespräche in Paderborn und fragte sich, wie er der Sache ein Ende bereiten könne. Zumal die zweiundsiebzig Kleriker es weder fertigbrachten, dem Heiligen Vater das Zeugnis eines tadellosen Lebenswandels auszustellen, noch sich in der Lage sahen, ihn wirklich anzuklagen.
Leo selbst führte das Ende herbei. Zur Überraschung aller erhob er sich zwei Wochen vor Heiligabend von seinem Stuhl und erklärte: »Den Spuren meiner Vorgänger folgend, bin ich bereit, mich von diesen bösartigen verbrecherischen Anklagen, die über mich fälschlich verbreitet werden, zu reinigen.«
Was er dann am 23. Dezember mit dem Evangelienbuch im Arm auf der Kanzel der Peterskirche tat.
Die Ankündigung des päpstlichen Reinigungseides, eine Möglichkeit, über die der Pontifex mit Karl unter vier Augen in Paderborn ja schon gesprochen hatte, lockte eine riesige Menschenmenge vor die Peterskirche. Gerswind, die mit Karls Gefolge nahe der Kanzel stand, wandte sich um und musterte die Masse, die in die Kirche drängte. In den Augen unzähliger Römer sah sie so etwas wie freudige Erwartung. Wie auch Gerswind wußten diese Menschen genau, was für ein Mann den Petristuhl innehatte, und freuten sich darauf, vom lebendigen Gott endlich ein deutlich wahrnehmbares Zeichen sehen zu können. Denn der Herr würde sicherlich einen Blitz herabschleudern, um den Lügner zu vernichten. Oder die Erde würde sich unter ihm auftun und ihn verschlingen. Oder ein Wesen aus einer anderen Welt erscheinen und ihn in die Hölle davontragen.
Die Stimme Leos drang weit, aber nicht bis auf den Platz hinaus, wo die Menge in gespannter Erwartung verharrte.
»Es ist bekannt, o geliebte Brüder«, begann Leo, »daß Übeltäter gegen mich aufgestanden sind und daß sie mich und mein Leben mit schweren Beschuldigungen gekränkt haben. Um dies zu erkennen, ist der allergnädigste und erlauchte König Karl zugleich mit den Priestern und seinen Großen in diese Stadt gekommen. Deshalb reinige ich, Leo, Pontifex der heiligen römischen Kirche, von niemandem gerichtet noch gezwungen, sondern aus freiem Willen mich in eurer Gegenwart vor Gott, der das Gewissen kennt, vor seinen Engeln und vor dem heiligen Petrus, dem Apostelfürsten, in dessen Anblick wir stehen, daß ich weder die Verbrechen, die man mir vorwirft, verübt noch zu verüben befohlen habe, und ich rufe Gott zum Zeugen
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