Die Beutefrau
Lehren von Teles zu verdanken. Angst vor dem Auftauchen weiterer verschütteter Erinnerungen erfaßte sie. Was hatte sie als kleines Kind noch gesehen, erlebt oder gelernt? Beruhte ihr ständig wiederkehrender Alptraum von der brennenden Sachsenhütte im Wald auf eigenen Erfahrungen? Sie wollte es gar nicht wissen.
»Es freut mich, daß du unsere Bräuche noch kennst und unsere Stätten noch ehrst. Du wirst dieses Wissen also weitergeben können«, stellte Geva fest.
»An wen denn?« fragte Gerswind mit bitterem Lachen.
»An Judith, natürlich.«
»Judith?«
»Deine Nichte. Heilwig sollte davon allerdings nichts wissen. Sie und ihr Gemahl sind außerordentlich christlich und würden das nicht billigen.«
Langsam erhob sich Gerswind.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie unsicher. »Wieso sollte ich Judith etwas lehren können? Sie wird doch mit ihrer Mutter wieder nach Bayern reisen?«
»Du weißt es also noch nicht!«
Geva sah sich um, wies zu einem umgestürzten Baum nahe dem Felsen und bedeutete Gerswind, sich neben sie auf den Stamm zu setzen. Zögernd folgte Gerswind dieser Aufforderung.
»Was weiß ich noch nicht?«
Geva schnaufte verächtlich, als sie auf dem Baumstamm Platz nahm.
»Die Geschichte wiederholt sich, meine Tochter. Für unser freies Geleit hat sich der Herrscher eine Geisel stellen lassen. Judith. Er hatte tatsächlich die Stirn, sich wieder eines unserer Mädchen auszubedingen! Heilwig ist außer sich, und ich bin es auch. Denn glaube mir, mein Kind, ich habe dich damals nicht hergeben wollen. Ich habe um dich gekämpft. Eine lange Zeit.«
»Ich weiß«, erwiderte Gerswind tonlos. Sie dachte an den Brief, in dem ihr Heilwig mitgeteilt hatte, daß sich Geva von Widukind losgesagt hatte, weil dieser sie, Gerswind, König Karl überlassen hatte. Gerswind erinnerte sich, daß Heilwig nach der Geburt ihrer eigenen Tochter Judith Verständnis für die Handlungsweise der Mutter geäußert hatte. Und jetzt sollte ausgerechnet Heilwigs Judith gleichfalls eine Geisel sein?
»Das kann er nicht machen!« fuhr Gerswind auf.
»Der Kaiser?« versetzte Geva verächtlich. »Alles kann er machen, und wir können nichts mehr tun. Heilwig hat sich vor ihm auf die Knie geworfen, und ich habe ihn verflucht. In seiner Gegenwart habe ich unsere Götter laut beschworen, ihn, den Fürchterlichen, der unsere Sippe nahezu ausgelöscht, unsere heiligen Stätten vernichtet und dich gestohlen hat, ein einsames Alter ohne seine geliebten eigenen Kinder erleben zu lassen und sein Reich zu vernichten. Was meinst du, was er darauf tat?«
»Er hat dich ausgelacht«, erwiderte Gerswind zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Gelacht hat der Sohn der Bertrada nicht. Aber böse gelächelt. Und behauptet, sein Gott sei gerecht und verleihe jedem das Alter, das er verdiene. Jetzt, Gerswind, ist deine Stunde gekommen.«
»Wie meinst du das?« fragte Gerswind erschrocken.
»Du wirst Judith erziehen. Du wirst sie alles lehren, was dir der Grieche beigebracht hat …«
»Du weißt von Teles?«
»Wir standen lange Zeit miteinander in Verbindung. Nachdem dein Vater den Kampf aufgegeben hatte.«
Gerswind sprang vom Stamm auf und funkelte ihre Mutter an. »Das glaube ich nicht!«
Doch mit einem Mal wurde ihr vieles bisher Unerklärliche deutlich, und es gab ihr einen Stich ins Herz. Es war beinah so, als ob Teles sie über den Tod hinaus verraten hätte.
»Er wußte doch, daß ich dich suchte«, flüsterte sie.
Geva zuckte mit den Achseln. »Und was hättest du getan, wenn du mich gefunden hättest? Glaub mir, Kind, es war besser so. Judith hat keinen Teles. Sie hat nur dich. Du mußt dich jetzt um sie kümmern. Das bist du der Familie schuldig, die deinetwegen zerbrochen ist. Und dein Vater ist auch tot. Wußtest du das?«
Gerswind schüttelte benommen den Kopf. »Das ist doch nicht meine Schuld«, sagte sie mit fast erstickter Stimme.
Geva erhob sich.
»Nein. Als Krieger wäre er zwar früher, aber sinnvoller gestorben. So hat er seine letzten Lebensjahre damit verbracht, sich vor einem Kreuz in den Staub zu werfen und einem Gott zu huldigen, der von seinen Anhängern verlangt, sich selbst zu quälen. Als ob das Leben nicht ohnehin genug Strafen bereithielte!«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe beschlossen, mir diesen Gott einmal näher anzusehen, und werde nach Chelles reisen. Im christlichen Kloster«, sie spuckte das Wort fast aus, »möchte ich herausfinden, ob wenigstens Gisela, die Tochter der Bertrada,
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