Die Beutefrau
bedauerte es nicht länger, daß der Kaiser das Mädchen als Geisel am Hof behalten hatte.
In ihren Briefen an Mutter und Schwester ließ sie sich darüber aus, welch glänzende Zukunft Judith bevorstand. Die beiden brauchten sich keine Sorgen um das Kind zu machen, denn es gehe ihm gut und es gedeihe prächtig. Auf allen Ebenen hatte sie in ihrem Schreiben an Geva hinzugefügt. Heilwig kam zunächst noch häufig zu Besuch und konnte sich selbst davon überzeugen, wie gut ihre Tochter am Kaiserhof aufgehoben war. Es mußte sie schmerzen, daß Judith nie den Wunsch äußerte, zu Mutter und Vater zurückzukehren, sondern fast erleichtert zu sein schien, wenn die ihr fremd gewordene Frau sie wieder zum Spielen entließ. In späteren Jahren ließ sich Heilwig in Aachen nicht mehr blicken. Sie gab vor, mit ihren drei anderen Kindern sehr beschäftigt zu sein. Gerswind vermutete, daß Judith der eigenen Mutter unheimlich zu werden begann.
»Ich habe Angst vor diesem Kind«, hatte sie einmal verlauten lassen, ein Ausspruch, der Gerswind, die Judith schon beinah als eigene Tochter ansah, eher beglückte. Sie hatte keine Angst vor diesem Kind. Sie liebte es.
Unbesorgt hätte sie Judith das Geheimnis um ihre Schwangerschaft anvertrauen können, denn das Mädchen hatte sich als so verschwiegen wie ein Grab erwiesen. Doch sie wollte das Schicksal nicht herausfordern und beschloß, so lange wie möglich zu verheimlichen, daß sie wieder ein Kind erwartete. Sie würde es nicht ertragen, Karl abermals zu enttäuschen.
Er hatte sich so auf ein Kind von ihr gefreut und ihr nach der Geburt ihres Sohnes angedeutet, daß er Großes mit ihm und ihr vorhabe. Dann war der Junge gestorben, und die nächsten beiden Kinder hatten nicht einmal das Licht der Welt erblickt.
Welche Rolle ihr gemeinsamer Sohn hätte spielen sollen, wurde ihr klar, als der Kaiser schon am Tag nach dessen Geburt eine große Reichsversammlung einberief, auf der er sein politisches Testament verkündete. Aber die Anwesenden, die erwartet hatten, daß er bekanntgeben würde, wer ihm als Kaiser nachfolgen sollte, sahen sich enttäuscht. Karl teilte das Reich lediglich unter seinen drei Söhnen auf: Karl dem Jüngeren wurden die alten Gebiete Austriens und Neustriens zugewiesen, Pippin würde neben seinem Italien auch noch Bayern und das südliche Alemannien erhalten, und Ludwig, dem Jüngsten, sollten außer Aquitanien auch noch Septimanien, die Provence und Teile Burgunds zufallen.
Einige seiner Berater drängten, den jungen Karl endlich als nächsten Kaiser der Franken anzuerkennen, was von anderen wiederum abgelehnt wurde. Schließlich sah die Lex Salica, das gültige salische Gesetz, kein Erstgeburtsrecht vor. Die meisten Edlen fanden, das Reich solle demjenigen bestimmt sein, der es als Kaiser am besten beherrschen und seine Zukunft gewährleisten könne. Vor allem letzteres war bei dem jungen Karl höchst fraglich, da er weder eine Gemahlin noch eigene Kinder – nicht einmal außereheliche – vorweisen konnte. Manche Würdenträger sprachen sich für den italienischen König Pippin aus, während ein großer Teil der Geistlichkeit sich für Ludwig einsetzte, der das Christentum in so hohen Ehren hielt. Doch Karl ließ sich zu keiner Verfügung nötigen und sprach keinem seiner drei Söhne die volle Souveränität zu.
Niemand verstand, weshalb er seine Entscheidung hinauszögerte, nur Gerswind ahnte den Grund: Sobald ihr gemeinsamer Sohn die ersten kritischen Lebensjahre gesund überstanden hätte, würde sich der Kaiser mit ihr ehelich verbinden und diesem Sohn die spätere Kaiserwürde übertragen. Nur so waren die Andeutungen, die Karl ihr gegenüber geäußert hatte, zu verstehen.
Nach außen hin ließ er durchblicken, daß er die Entscheidung erst treffen werde, wenn ihn der Kaiser von Byzanz als gleichrangig anerkannt hätte.
Damit hat sich Karl Zeit verschafft, dachte Gerswind, denn solange Nikephoros mit König Pippin um Dalmatien und Venedig kämpfte, würde eine solche Freundschaftsgeste gewiß ausbleiben.
Karls Hinhaltetaktik spaltete den Hof in drei Lager, und Gerswind stellte zu ihrer Besorgnis fest, daß Ludwig, der König von Aquitanien, die abgefeimtesten Würdenträger auf seine Seite gezogen hatte. Vor einer Woche hatte sie zufällig ein Gespräch zwischen zwei Königsboten mitgehört, die zu Pippin nach Italien reisen und ihm ein Geschenk seines Bruders Ludwig überbringen sollten. Gerswind beschlich ein unbehagliches Gefühl, denn
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