Die Beutefrau
heruntergerutscht, daß ich …«
»Hat er sich verletzt?« fuhr Karl seine Frau an.
»Nein, irgendwas an der Winde brach, und dann wurde das Experiment abgebrochen. Vielleicht hat er jetzt einen Ziehschmerz, aber das ist bestimmt nichts gegen meinen Zahnschmerz …« Mit dem Federbusch fächelte sie sich den Rauch zu. »… und vielleicht hat es ja sogar ein wenig geholfen.«
»Und der ganze Haushalt wurde Zeuge dieser Demütigung?« fragte Karl aufgebracht.
»Wie kann man jemanden demütigen, der schon einen Buckel hat?« fragte Fastrada zurück und stieß einen Schmerzenslaut aus. Sie schloß die Augen und zog sich die Decke über den Kopf. Es war schon äußerst lästig, wenn sich der eigene Gemahl mit jenen Kindern beschäftigte, die ihm eine andere Frau geboren hatte. Und jetzt war ein weiteres Mädchen hinzugekommen!
Zunächst hatte Gerswind geglaubt, das fremde Mädchen sei wie sie eine Geisel. Schließlich gab es nur zwei Arten von Mädchen, denen am Hof die gleiche bevorzugte Behandlung widerfuhr: die Töchter und sie, die Geisel. Was eine Geisel auszeichnete, wußte sie allerdings nicht, nur daß sie mit dem König nicht blutsverwandt, aber dennoch irgendwie an ihn gebunden und von ihm abhängig war. Doch schon am nächsten Tag erfuhr Gerswind zu ihrer Enttäuschung, daß nicht ihre eigene Fraktion, sondern die der Töchter Verstärkung erhalten hatte – auch wenn unklar war, was Hruodhaid zu dieser Stellung berechtigte. Schließlich war sie weder Hildegards noch Fastradas Tochter.
Teles, der alles wußte, auch Dinge, die streng geheim waren – bei diesem Gedanken hielt sich Gerswind sofort die Hand vor den Mund –, würde ihr Aufklärung verschaffen. Sie trottete zu den Verwaltungsgemächern, wo er sich am Vormittag meist aufhielt, und freute sich, als sie ihm bereits auf dem Gang begegnete.
Er beugte sich zu ihr herab. Sie wich vorsichtig seinem langen Bart aus. Bei Teles wagte sie es nicht, einen Zopf hineinzuflechten, wie sie es früher bei König Karl getan hatte, ehe er einem kurzen Bart den Vorzug gab. Gerswind begriff, daß sie mit dem Bart von Teles keine Spielchen treiben durfte, was auf irgendeine seltsame Art mit dem Tod seiner Frau und seiner Tochter zusammenhing. Er hatte einmal beobachtet, wie Gerswind einen Käfer an den Fühlern berührte, und sie darauf aufmerksam gemacht, daß das Insekt dabei genauso abwehrend reagierte wie er, wenn sie an seinem Bart zog. Von da an hatte sie sein Gesichtshaar nie wieder angefaßt.
»Wird dich irgend jemand in den nächsten Stunden suchen?« erkundigte er sich leise, bevor sie sich mit ihrer Frage an ihn wenden konnte.
Verwundert schüttelte Gerswind den Kopf. Nach ihr suchte kaum je ein Mensch. Jedenfalls nicht mehr. In den ersten Jahren an Karls Hof hatte das häufige Verschwinden des kleinen Mädchens oft für Aufregung gesorgt, aber inzwischen hatte sich jeder daran gewöhnt, daß Gerswind eben gelegentlich für kurze Zeit davonlief. »Ihre sächsische Wanderlust«, nannte Karl diese Herumstreunerei.
Weit kam sie nie, da der Hunger sie jedesmal zurücktrieb. Die anderen Kinder und auch die Erwachsenen fanden es seltsam, daß die kleine Sächsin weder Angst vor dem Alleinsein hatte noch vor den Gefahren, die auf ein Kind außerhalb der Palisadenumzäunung lauerten.
»Ich bin ein Baum unter Bäumen, ein Strauch unter Sträuchern«, sagte das Mädchen nur, wenn sich andere verwundert darüber zeigten, daß ihm nie das Geringste zustieß.
»Über sie wacht ein sehr mächtiger Schutzengel«, behauptete Teles. Niemand ahnte, daß er selbst diesem Schutzengel gehörigen Beistand leistete und Gerswind nie aus den Augen ließ. Da er am Hof keine dringlichen Aufgaben mehr zu verrichten hatte, konnte er das Versprechen ehren, das er Widukind einst gegeben hatte. Doch es fiel ihm mit zunehmendem Alter immer schwerer, dem behenden jungen Geschöpf unauffällig zu folgen.
»Dein großer Tag ist da«, eröffnete er ihr jetzt.
»Das Geheimnis!« versetzte Gerswind aufgeregt und vergaß das neue Mädchen. Seit sie denken konnte, hatte Teles versprochen, ihr ein ganz wichtiges Geheimnis um ihre Herkunft zu enthüllen, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht hätte.
»Das Geheimnis«, wiederholte Teles nickend. »Du bist jetzt groß genug, es für dich zu behalten.«
Hand in Hand verließen sie das dunkle Gebäude und den Hof. Die Wachen an der Pforte machten dem alten Mann und dem Mädchen ehrerbietig Platz. Wagenräder und Pferdehufe hatten
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