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Die Beutefrau

Die Beutefrau

Titel: Die Beutefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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der gerundeten Kuppe stehen, rührte ihn behutsam an und verneigte sich. Niemand mußte ihr sagen, daß sie sich an einer Stätte der Macht befand. Teles hatte sie viel gelehrt.
    »Ich grüße dich, meine Tochter Gerswind«, sagte der Mann, der hinter dem Felsen hervorkam. »Ich freue mich, daß dich die Götter zu mir geführt haben.«
    Gerswind starrte den Fremden an. Teles hatte ihr von ihrem Vater erzählt und erklärt, daß er ein mächtiger Herrscher sei. Vor ihr aber stand ein gebeugter hagerer Mann, der in die Kleidung der gewöhnlichen Landbevölkerung gehüllt war, der König Karl höchstens bis zur Brust gegangen hätte und auch sonst nicht sonderlich eindrucksvoll wirkte. Sein spärliches Haar war schlohweiß.
    »Du bist Herzog Widukind?« fragte sie unsicher und trat einen Schritt zurück.
    »Ich bin dein Vater, Gerswind, mein Kind.«
    Mein Kind. So nannte König Karl sie manchmal. Und Teles auch. Königin Fastrada nie. Die sagte höchstens: »Geh mir aus dem Weg, du Kind des finsteren Tanns.«
    Mein Kind. Ob ihre Mutter sie je so genannt hatte? Die Frau, die ihr zwar das Leben geschenkt hatte, aber aus ihm verschwunden war, ehe Gerswind Erinnerungen an sie sammeln konnte? Gerswind fühlte sich stets schuldig, wenn sie an ihre Mutter dachte, denn sie wußte nicht mehr, ob sie sich als kleines Kind nach ihr gesehnt hatte. Du sollst Vater und Mutter ehren. Hatte sie sich als Dreijährige in den Schlaf geweint, weil keine Mutter sie zugedeckt und zur guten Nacht geküßt hatte? War sie auf der Suche nach ihrer Mutter jammernd durch die Hofgebäude gerannt? Steckte hinter ihrem ständigen Davonlaufen vielleicht der verborgene Wunsch, die Mutter irgendwo aufzuspüren? Was hatte ihr die Mutter einst bedeutet, was hatte sie von ihr gelernt?
    »Wo ist meine Mutter?« fragte Gerswind.
    Ein Schatten flog über Widukinds Gesicht.
    »Der Friede sei mit ihr«, erwiderte er leise. Gerswind überlegte, was er damit wohl sagen wollte. Dabei musterte sie den Vater, an den sie sich ebensowenig wie an die Mutter erinnern konnte und den sie sich in ihrer Vorstellung beträchtlich imposanter ausgemalt hatte. Fest entschlossen, das große Geheimnis nicht zu einer Enttäuschung werden zu lassen, trat sie einen Schritt vor, streckte die Hände aus und sagte: »Ich grüße dich, mein Vater. Berichte mir von dir und den Unseren. Und sag mir doch: Was ist mit meiner Mutter?«
    Der hagere Mann zog sie an ihren Händen zu sich hin, und als er sie umarmte, vermeinte Gerswind jeden Knochen zu spüren. »Das, mein Kind, kann ich dir erst berichten, wenn du älter bist«, wehrte er ab. Seine Augen nahmen den gleichen traurigen Ausdruck an wie die König Karls, wenn er von seiner verstorbenen Ehefrau Hildegard sprach. Meine Mutter ist tot, dachte Gerswind aufgewühlt. Sie begann leise um die Mutter zu weinen, an die sie sich nicht mehr erinnerte, um die verlorene Zeit, die ihr nicht einmal König Karl zurückbringen konnte.
    Noch vor Tagesanbruch wachte Gerswind am nächsten Morgen auf. Sie wischte sich den Schlaf aus den Augen und blickte zu Hruodhaid, die neben ihr im Bett lag und im Traum seufzte. Leise erhob sich Gerswind. Während sie sich im schwachen Licht des stets brennenden Öllämpchens ankleidete, rief sie sich die eigenen Traumgesichte der Nacht ins Gedächtnis und mühte sich, ihnen, so wie Teles es sie gelehrt hatte, einen Sinn zu geben. Im Schlaf verkehrte die Seele nämlich mit den Traumgeistern, den Draugen, und diese kannten die Zukunft. Doch obwohl Gerswind sich genau zu erinnern vermeinte, daß ihr Widukind nicht im Schlaf erschienen war, schob sich seine Gestalt immer wieder vor ihr geistiges Auge. War ihr der Vater am Vortag nicht wie ein Traum an der Stätte der Macht erschienen? Das große Geheimnis, von dem Teles seit Jahren gesprochen hatte. Doch ein neues Rätsel war an seine Stelle getreten: Wenn ihre Mutter wirklich tot war – unter welchen Umständen war sie gestorben? Sosehr sich Gerswind auch mühte, es wollte kein Bild von Geva in ihr Gestalt annehmen, und die Stimme der Mutter war seit langem verweht. Die jüngeren Kinder von Karls Gemahlin Hildegard wuchsen zwar auch mutterlos auf, doch ihrer Erinnerung konnten wenigstens die älteren Geschwister auf die Sprünge helfen. Bruder und Schwester hatte Gerswind auch, doch von ihrem Vater hatte sie erfahren, daß ein Wiedersehen unwahrscheinlich sei – Heilwig sollte demnächst den bayerischen Grafen Welf von Altdorf heiraten, und Wigbert wurde in einem

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