Die Beutefrau
Fastrada, während sie ihren nackten Fuß streichelte. »Sie ist keines deiner geliebten Kinder, sondern eine Geisel. Widukinds Leute haben sich trotz aller Schwüre wieder gegen dich gestellt. Du kannst nicht erlauben, daß sie dich töricht aussehen lassen. Nach dem heutigen Prozeß darfst du keine Gnade mehr walten lassen.« Sie streckte ein Bein aus. »Deine Milde gegenüber dem Buckel wird dich auch noch reuen.« Kokett setzte sie hinzu: »Ach, Karl, wie kann ein so großer und starker Mann nur so schwach sein!«
Der König nahm den angebotenen Fuß und küßte ihn.
»Du hast recht. Gerswind ist des Todes«, bestätigte er. Über seinen Ältesten wollte er nicht mehr reden. Und über seine Schwächen schon gar nicht.
3
Alleingänge
Die Jahre 792 bis 794
Diesmal blieb Gerswinds Verschwinden nicht lange unbemerkt, und diesmal wurde nach ihr gefahndet. Der Mönch, der mit den jüngeren Kindern der Hofschule zurückgekehrt war, schwor, nicht gemerkt zu haben, wann sich die Zehnjährige von der Gruppe entfernt hatte. Ja, ihm sei ihr Fehlen erst aufgefallen, als man ihn nach ihrem Verbleib befragt habe.
»Ein merkwürdiges Kind«, entschuldigte er sich. »Manchmal ist sie körperlich anwesend, aber ihr Geist scheint sich woanders aufzuhalten. Und manchmal …«
»… ist sie wohl körperlich abwesend, aber ihr Geist verweilt in der Schule?« fragte Alkuin, der Leiter der Hofschule, mit beißendem Spott. »Dann fordere bitte schön ihren Geist auf, unverzüglich den Körper herbeizuschaffen.«
Suchtrupps wurden zu Fuß und zu Pferde ausgesandt. Sie durchkämmten die nahe gelegenen Wälder, durchsuchten Gehöfte, befragten jeden, der ihnen begegnete, doch das Mädchen schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
Teles zog auf eigene Faust los und suchte all jene Orte auf, zu denen er Gerswind bei früheren Ausflügen gefolgt war. Er hoffte, sie vor den Häschern des Königs aufzuspüren, damit er sie vor ihnen in Sicherheit bringen konnte. Niemand hatte ihm erzählt, daß Gerswinds Tod beschlossene Sache war, doch er hatte sich aus den Geschehnissen der vergangenen Tage, der Aufregung, die Gerswinds Verschwinden diesmal verursacht hatte, und dem Aufwand der Suche zusammengereimt, daß ihr Leben in Gefahr war. Er kannte Karl gut und wußte, daß sich der König keine Schwäche mehr erlauben durfte, nachdem er seinem aufständischen Sohn das Leben geschenkt hatte. Nicht nur die erneute Sachsenerhebung, sondern auch die Hungersnot, die wegen der Mißernten im Land drohte – und die man vielleicht auch irgendwie den aufrührerischen Sachsen zuschreiben könnte –, erforderte eine Art Sühneopfer, überlegte Teles.
Der König hatte die Tochter Widukinds in seinem Haushalt aufgenommen und sie wie eines seiner eigenen Kinder behandelt und erziehen lassen. Aber als Geisel hatte sie den Eidbruch der Sachsen mit dem Leben zu bezahlen. So war es üblich.
Gerswind konnte nicht wissen, welches Damoklesschwert über ihr schwebte, dachte Teles. Wie immer würde der Hunger sie an den Hof zurücktreiben. Er mußte sie unbedingt finden, bevor sie heimkehrte oder den Leuten Karls in die Hände fiel! Wo er sie dann verstecken könnte, wußte er noch nicht, war sich aber sicher, daß ihm zu gegebener Zeit der geeignete Ort einfallen würde.
Verschüttet geglaubte Erinnerungen an seine Jugend stiegen in Teles auf. Als Sklave war er unzählige Male aus Klöstern geflüchtet und jedesmal wieder aufgegriffen worden. Er verfluchte das Alter, das seinen Gliedern die Ausdauer nahm, setzte sich auf eine Wiese und mühte sich, Gerswinds Gedanken zu folgen.
An wen würde sich das Mädchen wenden wollen? Wahrscheinlich an ihren Vater. Wo würde sie die Suche nach ihm aufnehmen? An der ihr bekannten Stätte der Macht natürlich. Teles sprang auf und eilte zum Wald. Er war so voller Sorge und so sehr mit dem Blick nach vorn beschäftigt, daß er den Späher der Königin nicht bemerkte, der ihm heimlich folgte.
»Wenn überhaupt jemand weiß, wo sich die Sachsendirne aufhält, dann dieser Grieche«, hatte Fastrada ihrem Späher beschieden und ihn zur Eile aufgefordert. Sie kannte ihren Gemahl. Solange die Flammen seines Zorns noch so hell loderten, würde er die Geisel bedenkenlos töten lassen und somit ein Geschöpf aus der Welt schaffen, das ihr in nur wenigen Jahren selbst zum Verhängnis werden könnte.
Es war ein offenes Geheimnis, daß ihr Gemahl Mädchen in der ersten Blüte ihres Lebens besonders liebevoll begegnete. Hildegard
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