Die Beutefrau
erschienen, das Gespräch in diese Richtung zu lenken. Doch sie konnte nicht wissen, welchen Schmerz dem König die Erwähnung Prüms im Zusammenhang mit seiner Mutter bereitete.
Bertrada hatte seinen Hof bei Nacht und Nebel verlassen, nachdem er ihr jede weitere Einmischung in die Politik untersagt hatte. Mit Schaudern dachte er an den fürchterlichen Streit mit seiner Mutter, die daraufhin an jenen Ort zurückgekehrt war, den sie Heimat nannte. Dort hatte auch sie – soweit er in Erfahrung bringen konnte – als junge Frau viele Jahre unter falschem Namen gelebt. In Prüm war sie wohl seinem Vater Pippin begegnet, dort war er, Karl, vermutlich zur Welt gekommen; jedenfalls konnte er sich erinnern, dort eine größtenteils unbeschwerte Kindheit verbracht zu haben. Wie oft hatte er seine Mutter in das Prümer Genitium begleitet! Und da sollte in den vergangenen Jahren Gerswind gearbeitet haben?
»Wie bist du nach Prüm gekommen?« Die Stimme des Königs klang gepreßt und wie von fern.
Gerswind hielt es nicht für ratsam, den ältesten Sohn des Königs zu erwähnen.
»Gute Leute haben sich meiner erbarmt und mir geholfen«, sagte sie leise.
Wenn ihn Gefühlsregungen zu übermannen drohten, verlagerte der König seine Aufmerksamkeit meist vom Herzen auf den Kopf. Das tat er auch jetzt und hatte so sehr schnell das Mosaik zusammengesetzt. Langsam wandte er sich um, musterte Gerswind mit einer Miene, aus der sie Abscheu herauslas, und versetzte: »Gute Leute! Hältst du mich für dumm? Mein mißratener Sohn Pippin hat dich auf seinem Weg dorthin aufgelesen und mitgenommen. So war es doch! Ich sehe es genau vor mir! Ha, das Sachsenmädchen ist also sein neues Werkzeug! Der schändliche Verräter hat dich hergesandt, um mein Haus auszukundschaften! Du solltest dich bei uns wieder einschleichen …«
»Nein, nein, nein!« schrie Gerswind verzweifelt und hob die Hände. Nichts verlief nach Plan. Todesangst erfaßte sie. Hastig fuhr sie fort: »Ja, es stimmt, Pippin hat mir geholfen und mich nach Prüm gebracht, aber er selbst lebt da ganz friedlich, arbeitet fleißig im Klostergarten und ist bestimmt ein guter Mönch! Nie hat er von seiner Familie gesprochen, nur davon, daß er einen fürchterlichen Fehler begangen hat. Er bereut seine Tat! Er würde Euch nie mehr etwas antun wollen!« Sie biß sich in den Daumen, um die Tränen zurückzuhalten. Mit Weinen würde sie ihr Leben wohl kaum retten können; dafür benötigte sie die Gewalt über ihre Sprache.
Karl musterte sie nachdenklich. Ihre Worte stimmten mit den Berichten überein, die er von Vater Assuerus empfangen hatte. Und seine Menschenkenntnis sagte ihm, daß Gerswind die Wahrheit sprach. Ein entzückendes Geschöpf, ging ihm zu seiner eigenen Überraschung plötzlich durch den Kopf. In ihrer Aufregung hatte Gerswind nicht auf den Sitz ihres Oberkleids geachtet, das sich jetzt einen Spalt geöffnet hatte und den Blick auf sehr weibliche Beine freigab: lang mit kräftigen Waden, so wie es der König an seinen Frauen gern hatte.
»Er war nur gut zu mir, das ist alles«, fuhr Gerswind fort. »Ich schwöre bei …« Sie hielt erschrocken inne, fing sich und fuhr fort: »… bei Jesus und allen Heiligen, daß es so war. Dabei hätte er mich hassen müssen, weil ich ihn doch verraten habe und alle seine Freunde hingerichtet wurden!«
»Du hast ihn nicht verraten«, erwiderte Karl jetzt mit etwas versöhnlicherer Stimme. »Kaplan Fardulf hat die Verschwörung aufgedeckt.«
»Weil ich ihm doch all das Schreckliche gesagt habe, was im Wald an der Stätte der Macht besprochen wurde!«
Die Spitzen von Karls lang herabhängendem Schnurrbart begannen zu zittern. Mit einem Mal war es sehr still im Raum. Beide zuckten zusammen, als aus einer Nebenkammer plötzlich lautes Säuglingsgeschrei ertönte.
»Arnulf und Alpais«, sagte der König zerstreut. Er wirkte mit einem Mal sehr müde und stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Setz dich da an den Tisch, und erzähl mir alles. Alles! Ohne Lügen, Auslassungen oder Ausschmückungen.«
Sie tat wie ihr geheißen. Stehend hörte er sich ihre Geschichte an, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen. Am Schluß fragte Gerswind zaghaft: »Was geschieht jetzt mit mir? Bin ich wieder eine Geisel? Muß ich sterben?«
Flüchtig überlegte Karl, wieviel einfacher es doch war, über Leben und Tod von Menschen zu bestimmen, denen man dabei nicht in die Augen zu schauen braucht und deren schöne Beine man nicht gerade bewundert
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