Die Beutefrau
einfach so bis auf den Hof vorgelassen hatten.
»Verzeiht«, wiederholte der Mann. »Ich bin der Jude Isaak, ein Händler, der den Hof mit Gewürzen und Stoffen aus dem Morgenlande versieht. Doch jetzt habe ich Eurem erlauchten …«, verstohlen musterte er ihre stolze Erscheinung, »Eurem erlauchten Vater höchstselbst eine bedeutsame Mitteilung zu machen und möchte Euch bitten, ein Wort für mich bei ihm einzulegen, auf daß er mich vorlasse.«
Er hielt sie offensichtlich für eine der Königstöchter. Gerswind berichtigte ihn nicht, sondern fragte: »Welcher Natur ist dein Anliegen?«
»Bedeutsamer«, antwortete Isaak und fügte hinzu: »Ich habe eine Botschaft von Abt Alkuin aus Tours an den König.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt?« versetzte Gerswind. Sie war überrascht, daß Alkuin nicht einem Königsboten, sondern einem Juden seine Botschaft anvertraut hatte. Der einstige Leiter der Hofschule hatte Karl im Vorjahr um die Versetzung in eine für seine Seele weniger aufreibende Umgebung gebeten. Er hatte diese Bitte auf der Geburtsfeier von Bertas Sohn vorgebracht und vorsichtig angedeutet, wie sehr ihm das hemmungslose Leben und Treiben am Hof mißfiel. Jetzt überwachte er im Kloster des Heiligen Martin in Tours eine Vielzahl von Mönchen, von denen er die schönsten und genauesten Abschriften der lateinischen Kirchenväter und Klassiker erwartete, die Menschenhände anfertigen konnten. Karl hatte den Leiter seiner Hofschule nur ungern ziehen lassen, war aber versöhnt, als er der ersten dort hergestellten Schriften ansichtig wurde. Zumal neben Einhard und Angilbert immer mehr bedeutende Gelehrte in der Hofschule ihre Weisheit versprühten.
Gerswind beschied dem Juden, sich am Abend des nächsten Tages einzufinden. Sie werde dem König Mitteilung machen.
Als sie sich zur Jagdgesellschaft gesellen wollte, stellte sie fest, daß diese längst aufgebrochen war. Ratlos sah sie sich um und entdeckte einen Stallburschen, der mit einem Pferd auf sie zukam und den Auftrag hatte, sie in den Wald zu führen.
Seufzend bestieg sie das bereitgehaltene Pferd. Als sie außer Sichtweite des Wohnturms waren, stieg sie ab und ermunterte den Stallburschen aufzusitzen. Sie gehe lieber zu Fuß. Erschrocken lehnte er ab. Es würde ihn den Kopf kosten, sagte er, wenn ihn jemand reiten und die edle junge Frau zu Fuß gehen sähe.
»So schnell wird man an diesem Hof nicht geköpft«, sagte Gerswind aufmunternd. Bis zum Waldrand führten sie das Pferd in ihrer Mitte. Der Bursche wies auf niedergetrampeltes Gras und Gebüsch.
»Ihr seht ja selbst …«, sagte er, nahm seinen Abschied und rannte den Weg zum Hof zurück.
Etwas ängstlich ergriff Gerswind die Zügel und wandte sich an den Wald.
»Ich habe vor dem riesigen Vieh auch Angst. Es wird sich sicherlich von mir losreißen und vieles von dir zertrampeln. Gewährst du mir trotzdem Einlaß?« sprach sie zu den Bäumen. Es war das erste Mal seit langer Zeit, daß sie den Wald wieder um Erlaubnis fragte. Doch sie mußte seine Sprache verlernt haben, denn sosehr sie auch horchte, kein Geräusch, kein Zeichen gab ihr über die Entscheidung des Waldes Aufschluß.
Während sie den Spuren der Jagdgesellschaft folgte, fragte sie sich betroffen, ob sie es wohl noch vermochte, sich in einen Baum unter Bäumen, einen Strauch unter Sträuchern oder gar in Gras unter Gräsern zu verwandeln. In ihrer jetzigen Verfassung bestimmt nicht, dachte sie, nahm sich aber vor, in den nächsten Tagen einen Versuch zu wagen.
Gebrüll, Gewieher und Gekläff verrieten ihr, daß sie der Gruppe des Königs schon sehr nahe sein mußte. Ihr Pferd wurde unruhig und scheute, so daß sie die Zügel losließ. Wie ein Pfeil schoß der Hengst zwischen den Bäumen davon. Ratlos blickte ihm Gerswind nach. Sie wußte, wie kostbar Pferde waren, und schämte sich, daß es ihr nicht einmal gelungen war, den Gaul ein paar hundert Schritte lang zu führen.
Die Jäger und ihre Begleitung achteten nicht auf sie, da alle einen großen Bären umstanden, über den ein grobmaschiges Netz aus Flachs so festgezurrt worden war, daß er sich kaum noch bewegen konnte. Er riß das Maul auf und gab ein markerschütterndes Brüllen von sich.
König Karl war der erste, der Gerswind entdeckte.
»Komm her, mein Kind!« rief er ihr gut gelaunt zu. »Du sollst die Entscheidung treffen!«
Verunsichert trat sie näher und sah den König fragend an. Seine Söhne Karl und Ludwig standen mit wurfbereiten Lanzen vor dem
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