Die Beutefrau
Stimme munter vor sich hinplätscherte wie ein Bergbach, dessen Wasser sich gelegentlich an Steinen brachen, sann Gerswind auf Rache. Doch sosehr sie ihr Gehirn auch marterte, es wollte ihr nichts offenbaren, mit dem sie Ludwig so schänden, demütigen und verletzen konnte, wie er es verdiente. Der Tag dafür wird schon noch kommen, tröstete sie sich schließlich und barg die Erinnerung an Ludwigs furchtbare Tat in einer hinteren Kammer ihres Hirns.
Auch am nächsten Tag sah sie sich außerstande, anderen Mitgliedern des Hofes in die Augen zu schauen und unbefangen mit ihnen zu plaudern. Sie klammerte sich an den Auftrag, den ihr der König am Feuer gegeben hatte, und zog sich mit dem Sachsengesetz in die Lesekammer zurück.
Die Lektüre fesselte und erschütterte sie.
Sterben soll, wer die vierzigtägigen Fasten vor Ostern in Verachtung des christlichen Glaubens bricht und Fleisch ißt. Sachsen sollten also sterben, wenn sie genau das taten, was der König auch tat. Weiter hieß es: Aber es soll vom Priester geprüft werden, ob er nicht durch Not gezwungen war, Fleisch zu essen.
Gerswind schnaubte wütend. Welche Not zwang denn den König dazu, sich mit großen Summen vom Fasten freizukaufen? Wurde einem reichen Sachsen denn das gleiche Recht eingeräumt? Sicherlich nicht.
Todesstrafe erleidet der, der nach heidnischem Brauch Leichen bestattet, indem er den Körper den Flammen preisgibt.
Nie wieder also durfte ein Sachse dem alten Brauch huldigen und einem Verstorbenen ›Friede seiner Asche‹ wünschen!
Dem geht es an Kopf und Kragen, der dem König als untreu erscheint.
Erscheint! Ein Sachse konnte also den Kopf verlieren, ohne daß ihm Untreue wirklich nachgewiesen worden war! Gerswinds Empörung steigerte sich mit jedem Satz und wurde auch nicht geringer, als sie im Anschluß an die Liste aller Vergehen, die mit dem Tod bestraft werden sollten, folgendes las: Es entspricht christlichem Gebot, daß allenthalben von allen königlichen Einkünften, auch von den Friedens- und Strafgeldern, der zehnte Teil den Kirchen und Priestern zustehen soll. In gleicher Weise schreiben wir göttlichem Gebot gemäß vor, daß alle den Zehnt von ihrem Vermögen und ihrer Arbeit den Kirchen und Geistlichen abliefern sollen, und zwar sowohl die Edelinge als auch die Frilinge und die Laten; denn was Gott einem jeden Christen schenkt, muß zum Teil Gott wiedergegeben werden.
Sie überlegte, wie wenig dann den Sachsen – vor allem den von Karl in fremde Gebiete umgesiedelten – zum Leben übrigbleiben würde, wie bitter es ihrem Volk erscheinen mußte, daß es für einen Glauben, der ihm aufgezwungen worden war, auch noch zu bezahlen hatte.
Wir befehlen, daß die christlichen Sachsen in den Kirchhöfen und nicht auf den heidnischen Grabhügeln bestattet werden. Warum läßt man ihnen nicht ihre alten Stätten und stellt einfach ein Kreuz darauf, fragte sich Gerswind und las weiter, daß die Wahrsager und Zauberer den Kirchen und den Pfarrern ausgeliefert werden sollten. Die sich daraufhin erst ihre Kunst zunutze machen und sie dann der Hinrichtung ausliefern, erinnerte sich Gerswind an eine Geschichte, die ihr Teles vor vielen Jahren erzählt hatte. Dabei ging es um eine Frau, von der es hieß, daß sie ihren Tisch täglich für die drei Nornen decke, und der vorgeworfen worden war, das Vieh ihres Nachbarn durch Magie vernichtet zu haben. Die Frau wurde dem nächsten Kloster überstellt. Der dortige Abt dachte praktisch und wies die Frau zunächst an, ihren Zauber zum Nutzen des Klosterviehs anzuwenden. Als die Kühe danach tatsächlich mehr Milch als je zuvor gaben, wurde die Frau wegen Zauberei hingerichtet. Gerswind schüttelte sich. Der König wollte von ihr Vorschläge zur Abänderung dieser Gesetze haben? Nun, die würde er noch am selben Abend erhalten! Sie nahm ein frisches Stück Pergament, spitzte wütend die Feder und begann zu schreiben.
Doch an jenem Abend sollten den König gänzlich andere Gedanken beschäftigen. Der Jude Isaak wurde an der Tafel zugelassen, um Alkuins Botschaft zu übermitteln.
»Stärke dich erst, mein Freund«, sagte der König und wies auf die großen Schüsseln. »Allerdings muß ich dich darauf aufmerksam machen, daß dieses herrlich duftende Fleisch von einem Wildschwein stammt, das wir gestern erlegt haben. Mir ist bekannt, daß dir dein Glauben den Verzehr solcher Köstlichkeit untersagt.«
Tieftraurig blickte der Jude zu Karl und erwiderte: »Hättet Ihr, großer und
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