Die Beutefrau
sachlich.
Gerswind, die ihr Gesicht an seiner Brust verborgen hatte, blickte erstaunt auf.
»So war es doch, Gerswind?« fragte der König. »Unser Freund Teles hat dich in deinem Traum zu sich gerufen?«
Gerswind nickte.
»Eines Traumes wegen wollte sie ein Pferd stehlen!« rief Ludwig empört.
»Wenn wir alle mehr auf unsere Träume hören würden, gäbe es sicher weniger Leid auf dieser Welt«, erklärte Karl und setzte mit Blick auf Ludwig hinzu: »Gott spricht schließlich auch durch unsere Träume zu uns.«
Diesen Satz hatte er in seiner Kindheit einst von Teles gehört, und das eigene Leben hatte ihm für dessen Richtigkeit Beweise geliefert. Teles. Der Gedanke, daß dieser Grieche, der engste Vertraute seiner Mutter, im Sterben liegen könnte, versetzte Karl einen Stich. Er hatte bereits so viele Menschen verloren, die ihn auf seinem Lebensweg begleitet hatten, und mit Teles würde wieder einmal ein Stück seiner eigenen Geschichte sterben.
Karl drückte Gerswind tröstend an sich, ließ sie dann los und wandte sich an den ältesten der anwesenden Söhne. »Karl, du wirst Gerswind begleiten und in Aachen alles für unsere Ankunft vorbereiten. Ihr brecht mit kleinem, aber gut bewaffnetem Gefolge sofort auf, dann könnt ihr in etwa fünf Tagen zu Hause sein. Übernachtet nahe Valenciennes in der Abtei Denain bei den Benediktinerinnen.« Sanft wischte er Gerswind die Tränen von den Wangen, trat dann ins Zimmer zurück und zog den Aulos von der Wand.
»Du erlaubst doch?« sagte er lächelnd zu Angilbert, als er Gerswind das Instrument reichte. »Gib dieses schnarrende Gerät der edlen Äbtissin Reginfledis mit einem Gruß von ihrem König und dem Abt von Saint Riquier. Vielleicht vermag sie ihm angenehmere Töne zu entlocken als unser Gastgeber. Und trage Teles auf, meine Mutter zu grüßen – falls ich nicht zeitig genug zurückkehre, um ihn selbst darum zu bitten.«
Er drückte Gerswind einen Kuß auf die Stirn und sagte mit der gleichen warmen Stimme, mit der er seine jüngsten Töchter lobte, wenn ihnen eine Aufgabe besonders gut gelungen war: »Sorge dich nicht, mein Kind, Gott wird alles richten. Und fall bitte nicht vom Pferd!« Gütig lächelnd, schloß er die Tür und ließ Gerswind im Flur zurück.
Sie rührte sich nicht von der Stelle, unsicher, ob sie noch träumte oder schon wachte. Hatte ihr König Karl wirklich soeben Carolino als Reisebegleiter zur Seite gestellt? Den Mann, den sie liebte, aber seit jener unglückseligen Jagd mied, da er ihr aus dem Weg zu gehen schien? Und jetzt sollte sie tagelang mit ihm zusammen durch das Land ziehen? Sie erschauerte, als ihr die unerfreuliche Szene des Vorabends einfiel, bevor der Bote mit der Nachricht über den Anschlag auf den Papst in die Akademiekammer gestürzt war. Was hatte Ludwig seinem Vater erzählt? Und was hatte Carolino von der gräßlichen Angelegenheit mitbekommen?
Als sie soeben in den Stall geeilt war, um sich ein Pferd herrichten zu lassen, war sie nur von dem Gedanken beseelt gewesen, so schnell wie möglich zu Teles zu gelangen. Weder hatte sie darüber nachgedacht, daß sie den Weg nach Aachen nicht kannte, noch, daß es gefährlich war, als Frau allein zu reisen. Sie hatte sich genauso auf den Weg machen wollen wie zu jener Zeit, da sie als kleines Kind im Vertrauen auf den Herrn Jesus, die Götter und alle christlichen Heiligen ins Unbekannte hinausgezogen war. Nur daß sie damals nicht auf den Gedanken gekommen wäre, sich dafür auf ein Pferd zu setzen.
Sie hörte nicht, wie sich die Tür wieder öffnete, und schrak zusammen, als sie plötzlich Carolinos Stimme vernahm: »Komm, Gerswind, gib mir das Ding, ich werde es zu unserem Reisegepäck legen. Und dann sollten wir uns sputen.«
Sie reagierte nicht, hielt den Aulos wie eine Kostbarkeit, die er ja auch war, ans Herz gepreßt.
»Gerswind?«
Sie blickte auf und sah in seinen Augen einen Blick, den sie nicht deuten konnte, der aber dafür sorgte, daß ihre Knie mit einem Mal zu zittern begannen. Das verstärkte sich, als Carolino ihr den Aulos sanft entwand und dabei ihre Finger berührte.
»Wir werden bestimmt rechtzeitig in Aachen sein, Gerswind«, sagte er tröstend. »Teles wird auf dich warten.«
Sie nickte benommen und befahl ihren Knien, Ruhe zu geben. Und zwar für die gesamte Dauer der Reise.
Nebelschwaden stiegen aus den Feldern empor, als die kleine Schar die Abtei Saint Riquier verließ und den Weg gen Osten einschlug. Zum ersten Mal in ihrem Leben
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