Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Beutefrau

Die Beutefrau

Titel: Die Beutefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
Vom Netzwerk:
würde Gerswind eine längere Wegstrecke ununterbrochen reiten müssen. Wenn sie mit dem Königstroß reiste, ging es gemächlicher zu, da auf die zu Fuß gehenden Begleiter, denen sie sich oft genug angeschlossen hatte, Rücksicht genommen werden mußte. Jetzt gab es keine Fußgänger. Gerswind bemühte sich, nicht daran zu denken, wie steil das Pferd zu beiden Seiten abfiel und in welchem Zustand sich ihre eigenen Knochen am Abend befinden würden – zumal ein großer Teil der Reise nicht über eine gut ausgebaute Römerstraße, sondern durch recht unwegsames Waldgebiet führen würde. Gerswind und Karl ritten in der Mitte. Sie waren von zwei gepanzerten und bewaffneten Reitern flankiert, vier weitere galoppierten mit dem Führer voraus, und vier Männer bildeten mit dem Gepäck den Abschluß des Zuges.
    Als wollten die Reisenden die Ruhe des noch schlafenden Waldes nicht stören, wurde in der frühen Stunde nur wenig gesprochen. Doch der dumpfe Hufschlag schien der Tierwelt vorzeitig die Ankunft des Tages zu vermelden. Der Wald wurde wach. Vereinzeltes Zwitschern schwoll allmählich zu einem vielstimmigen, von Fröschequaken verstärkten Konzert an. In der Ferne begann ein Specht zu klopfen, von irgendwoher kam ein schriller Vogelschrei, und im Unterholz raschelte es. Unmittelbar vor Gerswind und Carolino sprang fast lautlos eine weiße Hirschkuh auf den Weg und blickte den beiden unverwandt entgegen. Gerswind hielt den Atem an. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Sie entsann sich, schon früher einmal tief in die Augen eines solchen Tieres geschaut zu haben, damals, als sie vom Hof fortgelaufen war, weil sie um ihr Leben gebangt hatte. Damals hatte ihr die Hirschkuh zu verstehen gegeben, daß ihre Anwesenheit im Wald nicht erwünscht war.
    »Halt ein!« rief Karl, als einer ihrer Begleiter zum Schuß ansetzte, bevor die Hirschkuh verschwand. »Nur Vögel und Kleintiere. Wir haben keine Zeit, größeres Wild zuzubereiten.«
    Gerswind atmete erleichtert aus. Es hätte Unglück über uns gebracht, das Tier zu töten! Gleich danach schalt sie sich eine Närrin. Sie war doch kein abergläubisches Kind mehr, das dem plötzlichen Erscheinen eines wilden Tieres im Wald eine übernatürliche Bedeutung zuwies! Die Hirschkuh war nur durch die Reiter aufgeschreckt worden, redete sie sich ein. Um sich von dem Gedanken abzulenken, daß der Wald ihr abermals die Anwesenheit verbieten wollte, versuchte sie sich sämtliche Geschichten ins Gedächtnis zu rufen, in denen eine Hirschkuh vorkam. Die meisten hatte ihr Teles erzählt. Ach, Teles, du darfst nicht sterben! Das Herz zog sich ihr zusammen und machte ihr das Atmen schwer. Schnell richtete sie ihre Gedanken auf die Hirschkuh Kerynitis, das Lieblingstier der Göttin Artemis, das auch nicht getötet werden durfte und daher von Herakles eingefangen wurde. Und hatte nicht auch eine Hirschkuh an den Knospen des Weltenbaumes Irminsul geknabbert?
    »Außerdem wäre es undankbar gewesen, eine weiße Hirschkuh zu töten«, sagte Carolino jetzt, als bewegten ihn ähnliche Gedanken wie Gerswind. »Schließlich soll ein solches Tier meinem Vater bei einem Kriegszug die rettende Furt über den Main gezeigt haben, weshalb die Stelle heute Frankfurt heißt. Das war da, wo du vor fünf Jahren wieder aufgetaucht bist, als dort die große Synode abgehalten wurde.«
    »Wieder einmal ein Kriegszug gegen die Sachsen?« fragte Gerswind etwas bissig.
    »Ja, aber einer, bei dem die Franken zunächst weichen mußten«, erwiderte Carolino und musterte Gerswind nachdenklich von der Seite. »Betrachtest du dich denn immer noch als Sächsin, Gerswind?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie ehrlich. »Kannst du mir sagen, wer ich nach so vielen Jahren bei euch Franken bin? Dein Bruder Ludwig …« Es bereitete ihr große Schwierigkeiten, den Namen des verhaßten Mannes auch nur auszusprechen, doch sie mußte einfach Gewißheit darüber haben, ob Carolino falsche Schlußfolgerungen aus den Andeutungen seines Vaters gezogen hatte. »… Ludwig«, fuhr sie tapfer fort, »läßt mich meine Herkunft jedenfalls nicht vergessen. Er will mich zwar nicht mehr köpfen wie früher, als wir Kinder waren, doch für einen ganzen Christenmenschen scheint er mich auch nicht zu halten.«
    »Ludwig ist wahrscheinlich frömmer als der Papst«, stellte Carolino seufzend fest und setzte dann hinzu: »Auch wenn seine ersten beiden Kinder nicht von seiner Gemahlin stammen. Da hat er uns ja ganz schön lange sehr

Weitere Kostenlose Bücher