Die Bibel für Eilige
Guten.
Geistesgeschichtlich gesehen, ist ihr Denken ein Schritt |81| aus der streng vorgegebenen Norm in die Freiheit des persönlichen Handelns. Es geht nicht bloß um Normbefolgung; es geht um
das Wahrnehmen von Verantwortung. Die Propheten vollziehen den Schritt von der Moral zur Ethik. Es geht nicht mehr um das
Befolgen eines äußeren Moralkodexes, sondern um die eigene, freie, verantwortliche Tat.
Es sei an einen Propheten und Märtyrer unserer Zeit erinnert, der Prophetenworte als Lebensworte für heute ausgelegt hat,
Dietrich Bonhoeffer:
»Gehorsam ohne Freiheit ist Sklaverei, Freiheit ohne Gehorsam ist Willkür. Der Gehorsam bindet die Freiheit, die Freiheit
adelt den Gehorsam. Der Gehorsam bindet das Geschöpf an den Schöpfer, die Freiheit stellt das Geschöpf in seiner Ebenbildlichkeit
dem Schöpfer gegenüber. Der Gehorsam zeigt dem Menschen, dass er sich sagen lassen muss, was gut ist und was Gott von ihm
fordert (Micha 6,8), die Freiheit lässt den Menschen das Gute selbst schaffen. Gehorsam weiß, was gut ist, und tut es, die
Freiheit wagt zu handeln und stellt das Urteil über Gut und Böse Gott anheim. Gehorsam folgt blind, Freiheit hat offene Augen.
Gehorsam handelt, ohne zu fragen, Freiheit fragt nach dem Sinn. Gehorsam hat gebundene Hände, Freiheit ist schöpferisch. Im
Gehorsam befolgt der Mensch den Dekalog Gottes, in der Freiheit schafft der Mensch neue Dekaloge (Luther).
[…]
HERR, du hast mich überredet,
und ich habe mich überreden lassen.
Du bist mir zu stark gewesen
und hast gewonnen. (Jeremia 20,7)
Jeremia hat sich nicht dazu gedrängt, Prophet Gottes zu werden. Er ist zurückgeschaudert, als ihn plötzlich der Ruf traf.
Er hat sich gewehrt, er wollte ausweichen – nein, er |82| wollte dieses Gottes Prophet und Zeuge nicht sein – aber auf der Flucht packt ihn, ergreift ihn das Wort, der Ruf. Er kann
sich nicht mehr entziehen, es ist um ihn geschehen. Gott hat sein Opfer, oder wie es einmal heißt, der Pfeil des allmächtigen
Gottes hat das gehetzte Wild. Jeremia ist sein Prophet.
Von außen her kommt es über den Menschen, nicht aus der Sehnsucht seines Herzens, nicht aus seinen verborgensten Wünschen
und Hoffnungen steigt es herauf. Das Wort, das den Menschen stellt, packt, gefangen nimmt, bindet, kommt nicht aus den Tiefen
unserer Seele, sondern es ist das fremde, unbekannte, unerwartete, gewalttätige, überwältigende Wort des Herrn, der in seinen
Dienst ruft, wen und wann er will. Da hilft kein Widerstreben, sondern da heißt Gottes Antwort: ›Ich kannte dich, ehe ich
dich im Mutterleib bereitete, du bist mein. Fürchte dich nicht! Ich bin dein Gott, der dich hält.‹ Und dann ist dies fremde,
ferne, unbekannte, gewalttätige Wort auf einmal das uns schon so unheimlich wohlbekannte, unheimlich nahe, überredende, betörende,
verführende Wort der Liebe des Herrn, den es nach seinem Geschöpf verlangt.«
Die Propheten entlarven das abergläubische Verhältnis zum Ritus. Wo das Äußere nicht das Innere berührt, wird das Äußere trügerischer
Schein, religiöses Blendwerk. Bei ihnen erscheint das, was wir später das Gewissen nennen – die syneidesis – das Wissen mit
sich selbst.
Die großen Propheten entgrenzen ihr Denken. Das führt sie weit hinaus, über ein kleines Volk hinaus ins Geschick der Völker.
Sie reklamieren den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Gott der Wüstenwanderung und der Landnahme als den Herrn der Völkerwelt.
Sie führen ins Universale, was im National-Religiösen befangen war. Sie entlarven die Götzen, die Menschen sich machen, um
Menschen zu bedrücken und zu betrügen, bis sie sich selbst betrügen.
Der geistesgeschichtliche Schritt, der Akt der Selbstbefreiung, |83| den die Propheten entschlossen vorantreiben, ist ihr Kampf gegen die Götzen, jene von Menschen gemachten Götter, die Unterwerfung
verlangen, im Namen von Menschen. Die Propheten gehen den geistesgeschichtlich entscheidenden Schritt zur Entdämonisierung
und zur Delegitimierung der Mächtigen, die ihre Macht mit Götzen, ihren selbstgemachten Göttern, absichern und legitimieren.
Ihr theologisches Prinzip: Monotheismus, Universalismus und Bilderlosigkeit.
Weil der Herr der Welt sich nicht »orten« lässt, lässt er sich nicht domestizieren und instrumentalisieren.
Karl Jaspers sieht die alttestamentlichen Propheten als Teil einer weltgeschichtlichen Zäsur. Er nennt die Zeit um 500 v.
Chr. die
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