Die Bibel für Eilige
von Krieg, sondern um SCHALOM – das erfüllte, glückende, gesegnete, gerechte,
umfassende Leben.
|118| Das weltgeschichtlich bedeutsame Erbe der prophetischen Tradition lässt sich in diesem Text wiederfinden, nicht zuletzt in
seinem universalistischen Grundton, der weder etwas Imperiales noch einen ideologischen oder religiösen Alleinvertretungsanspruch
enthält. Wohl aber geht es um eine Verbindlichkeit, in der Schöpfer und Geschöpf und auch die Geschöpfe untereinander mit
der Natur im Einklang zu leben lernen. Insofern gehören die traditionell in die Weihnachtsliturgie gestellten Jesaja-Texte
in die Friedenstradition als einer messianischen Tradition. Sie haben mit ihrer kräftigen und zarten Poesie, mit ihrem Realitätssinn
und ihrem Überschuss zeitübergreifende Faszination:
Das Volk, das im Finstern wandelt,
sieht ein großes Licht,
und über denen, die da wohnen im finstern Lande,
scheint es hell.
Du weckst lauten Jubel,
du machst groß die Freude.
Vor dir wird man sich freuen,
wie man sich freut in der Ernte,
wie man fröhlich ist,
wenn man Beute austeilt.
Denn du hast ihr drückendes Joch,
die Jochstange auf ihrer Schulter
und den Stecken ihres Treibers zerbrochen
wie am Tage Midians.
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,
und jeder Mantel, durch Blut geschleift,
wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Denn uns ist ein Kind geboren,
ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter;
und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held,
|119|
Ewig-Vater, Friede-Fürst;
auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende
auf dem Thron Davids und in seinem Königreich,
dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Solches wird tun der Eifer des
HERRN
Zebaoth.
(Jesaja 9,1–6)
Martin Luther klagte 1528 in einem Brief: »Wir mühen uns jetzt ab, die Propheten ins Deutsche zu übersetzen, lieber Gott,
welch großes und beschwerliches Werk, die hebräischen Schriftsteller zu zwingen, deutsch zu reden, die sich so sträuben, da
sie ihre hebräische Sprache nicht verlassen und die fremde Sprache nachahmen wollen; wie wenn eine Nachtigall gezwungen würde,
einem Kuckuck, dessen eintönigen Ruf sie verabscheut, nach zu singen und ihren eigenen lieblichen Gesang aufzugeben.«
Ihm ist diese Nachahmung vortrefflich geglückt.
|120| Klageschreie und Loblieder
Die Psalmen als expressive Poesie
150 Hymnen umfasst die Sammlung, gegliedert in fünf Bücher (so wie die fünf Bücher Mose). »Von David« steht über vielen Psalmen.
Dem König wird Dichterisches und ein Sinn für Macht zugeschrieben. Messianische Hoffnung knüpft sich an ihn, an seine Nachkommen
und sein Friedensreich. Was Macht aus Menschen macht, lässt sich ebenso an ihm studieren.
Die in hunderten Jahren entstandenen Psalmen sind gesättigt mit Lebenserfahrung – voll individueller und kollektiver Höhen
und Tiefen. Verdichtete Sprache, im Kultus angeeignet, führen sie immer wieder in existenzielles Nach- oder Miterleben. Wechsel
von Ich-Sprache und Wir-Rede, sich überschlagende Sprache des Lobpreises, des Staunens über die Wunder des Lebens und: de
profundis! – aus der Tiefe, aus den Tiefen, den trockenen Zisternen der Seele, aus dem Sumpf der Verzweiflung. Letzte Schreie,
übergehend in Bitten, mündend in Vertrauen.
Das Vibrieren der Sprache im Lobpreis. Das Erzittern der Sprache im Elend. Für alles eine Adresse haben. Reden, Anredenkönnen
des Unaussprechbaren, des Schöpfers der Welt, des Hirten meines Lebens. Du, schweige doch nicht! Entsinne dich meiner. Lass
mich nicht abgleiten, nicht in die Grube fahren. Mein Schutz. Meine Burg. Mein Er-Retter.
Die Anfänge sind An-Rufe voller Expressivität:
Herr, hilf, die Heiligen haben abgenommen
Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name
|121|
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen
Der Herr ist mein Hirte
Aus der Tiefe rufe ich.
Der Herr ist mein Licht und mein Heil
Herr, du erforschst mich
Ich habe meine Augen auf
Herr, du bist unsere Zuflucht für und für
Lobe den Herrn, meine Seele.
»Gebetbuch der Bibel«, sagt man. Gebet – das ist ein domestiziertes Sammelwort für die Existenzsprache des Glaubens, in aller
Expressivität. Hier wird Glaube Fleisch und Blut. Hier fängt das Ringen an. Und das gesammelte Staunen. Da hört das Erörtern
auf. Hier beginnt die Relation, die Beziehung. Du. Du. Du. Meine Adresse für alles.
Weitere Kostenlose Bücher