Die Bibel für Eilige
Filterlos reden. Alles loswerden. Eine
Adresse haben für alles, was im Innersten aufs Äußerste bewegt – auch aller Zorn, Hass, alle Destruktion. Verzweiflungsfantasien.
Täuschung. Hoffnung und Zuversicht wiederfindend. Alles bekommt Raum und Sprache. Kathartische Wirkung, keine moralische Einschränkung.
Wer Feind ist, wird Feind genannt. Und die Seele wünscht ihn in den Abgrund. Und Gott, der Herr selbst, möge SEINE Sache gegen
den Ruhmredigen, den Rachgierigen, den Spötter, den Frevler, den Lästerer richten.
Diese Gebete sind Gedichte, die das Unsagbare und Unbegreifliche ins Bild bringen, dem Geheimnis gleichnishaft Sprache geben.
Herauslassen, was in mir steckt an überschäumender Freude und herzzerreißendem Schmerz, an Urvertrauen und an Grundzweifel.
Beten – das ist Singen und Flehen, Jauchzen und Jammern, Flüstern und Schreien, Danken und Protestieren.
Du musst nicht Dostojewski, Nietzsche und Benn, Beckett und Camus, Kafka, Kahlau oder Nelly Sachs lesen. Hier findest du schon
alles. Kein Thema, das Menschen im |122| Innersten bewegt, im Äußersten (um)treibt, lässt dieses Buch aus. Selbstsinn und Gotteszweifel. Grundangst und Furcht vor
(übermächtigen) Feinden und vor wilden Tieren. Vernichtungsfantasien und Ermordungsängste. Vergeltungsdrang und Vergebungsflehen.
Einsam, verlassen und unverstanden sein. Selbstgerechtigkeit und stabiles Feindbild. Hassausbrüche und Liebeserklärungen.
Hoffnungslosigkeit und Zukunftsgewissheit. Todesängste und Todessehnsüchte. Umfangen sein und umgarnt sein. Gelassenheit und
Geborgenheit. Kindliches Staunen und erwachsene Reflexion. Traumbilder und Wachträume. Stolz und Dankbarkeit. Innerste Zerrissenheit
und umfassendes Heilsein. Gerechtigkeits-, Friedens- und Ruhesehnsucht. Urvertrauen und Urängste. Schuldkomplexe und Gnadenglück.
Begeisterung über die Sterne, die Töne, die Farben, die Bäume, die Bäche, die Blumen. Und das wunderbare Aufeinander-Abgestimmtsein
aller Dinge. Gewissheit, dass es sich lohnt, gut zu sein.
Und
das Leiden an dem, der frevelt und frech mit seinem Glücke glänzt. Jammergesang und Jubelgeschrei. Der Mensch – gehängt zwischen
Himmel und Erde. Gott, gibt es dich, für mich? Neben dem groß geschriebenen WARUM das DOCH und das DENNOCH, in dem du durchhältst,
indem du an Gott festhältst und dich von Gott festgehalten weißt:
Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet,
so bist du doch, Gott,
alle Zeit meines Herzens Trost und mein Teil.
Gott ist dennoch Trost für alle, die reines Herzens sind, die der Sinnlosigkeit, der Ungerechtigkeit, der Frevelhaftigkeit
widerstehen und widersprechen und
in
allem und
nach
allem sagen: Gott ist so gut zu mir. Im Lande bleiben. Redlich sein. Offen. Nicht da sitzen, wo die Spötter sitzen. Lust daran
haben, zu erkennen und zu tun, was recht ist. Gewiss |123| sein, dass ich dann bin wie »ein Baum, an den Wasserbächen gepflanzt«. Nicht verwelken, sondern Frucht tragen, verwurzelt
sein, grün sein, schön sein, stark bleiben.
Alles ist Fügung, alles ist gut gefügt, und alles kann aus den Fugen geraten.
Und dennoch:
Er wird dich mit seinen Fittichen decken,
und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln.
Seine Wahrheit ist Schirm und Schild,
dass du nicht erschrecken musst vor dem Grauen
der Nacht,
[…]
Denn er hat seinen Engeln befohlen,
dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen,
dass sie dich auf den Händen tragen
und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.
(Psalm 91, 4.5–11.12)
Die Psalmen liegen vor uns wie ein aufgeblättertes Buch der menschlichen Seele – die himmelwärts erhoben und abgrundtief erschüttert
wird, bisweilen mit einer ungeschützten und moralisch nirgends gefilterten Wucht der Empfindung, der Sehnsucht, der Trauer,
des Hasses, des Jubels. Sie reflektieren Urerfahrungen, die ins Unterbewusste dringen. Man muss nicht die historische Einzelheit
verstehen, man wird im Innersten auf- und angerührt. Diese Texte helfen, Erfahrungen zu verarbeiten. Darin finde ich mich
ausgedrückt. (Wird das Kathartische noch erlebbar, wo die Psalmen »christlich gereinigt« werden – also alle Feindverwünschungen
getilgt, umgedeutet werden?)
Glauben heißt, sich dem Antlitz Gottes anzuvertrauen in einer Welt von Gewalt, Lüge, Heuchelei, Feindschaft, Gotteslästerung,
Selbstüberhebung, Betrug. Gott möge zurechtbringen, was die Übeltäter durcheinanderbringen.
|124| Wer darf Gott
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