Die Bibel für Eilige
in ungefärbter Liebe, in dem Wort
der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen
Gerüchten und guten Gerüchten; als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden
und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, |187| aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.« (2. Korinther 6,4–9)
Nachdem Paulus seine ganze Existenznot und seine Enttäuschung ausgedrückt hat, kann er sofort fortfahren und denen, mit denen
er im Streit liegt, sagen: »[…] unser Mund hat sich euch gegenüber aufgetan, unser Herz ist weit geworden. Eng ist nicht der
Raum, den ihr in uns habt; eng aber ist’s in euren Herzen.«
Und er bittet sie inständig: »[…] macht auch ihr euer Herz weit.« (2. Korinther 6,11–12)
Nachträglich betrachtet, ist es ein Glücksfall, dass die Bibel kein theologisches System bietet, sondern Erfahrungsberichte
in aller Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit: Dahinter ist fast immer ein konkreter Mensch – mit allen seinen Begabungen
und Begrenzungen – zu spüren.
Theologie gibt es im eigentlichen Sinne nur als theologische Existenz. Ein Gedanke, eine Erleuchtung, eine Eingebung kommt
aus einem inspirierten Gemüt, bricht aus ihm heraus, sammelt sich,
kommt
zur Sprache und
wird
zur Sprache.
Paulus – das ist die farbigste, die sperrigste, die umstrittenste, zugleich die geistvollste, tiefgründigste und sprachgewaltigste,
die gebildeteste, die mutigste und die verzücktfröhlichste Figur der frühen Christenheit.
Was hat denn Petrus geleistet, der mit dem Schlüssel und dem unmittelbaren Erbanspruch? Auf ihn wollte Christus seine Kirche
bauen. Das Papsttum glaubt bis heute, das gälte den Päpsten allen in apostolischer Sukzession. Petrus verspricht vollmundig
»uneingeschränkte Solidarität«, selbst wenn alle abfallen sollten – er nicht.
Dann schläft er im Garten Gethsemane ein, wie die anderen auch. Bei der Gefangennahme Jesu zückt er das Schwert zur Verteidigung,
weil er den Beistand himmlischer Heerscharen erwartet. Dann aber verleugnet er dreimal. Kreatürliche |188| Angst – um die eigene Haut. Sehr menschlich. Nur, warum musste er den Mund so voll nehmen? Auf diesen Petrus baut sich die
katholische Kirche – auf den Paulus die protestantische. Der eine wird dargestellt mit dem Schlüssel, mit dem er das Reich
Gottes aufschließt, und der andere mit dem Schwert, mit dem er die Geister scheidet.
Paulus ist der Mann der scharfen Unterscheidungen. Der große Exeget des Neuen Testaments, Ernst Käsemann, hat im Sinne des
Apostels Paulus die Theologie als die Fähigkeit bezeichnet, »die Geister zu unterscheiden« (1. Korinther 12,10).
Der Widerspruch im Menschen zwischen dem inneren Wissen dessen, was gut und richtig ist, ist das eine (Syneide sis – das Mitwissen des Menschen mit sich selbst und die Fähigkeit, zu beurteilen, was er tut, also Gewissen hat). Das andere
ist der konkrete Lebenswiderspruch oder – besser gesagt – der Riss in seinem Leben: diese schicksalhafte, diese bewusste Kehrtwendung.
Das Stigma der Vergangenheit bleibt, ob bei dem U-Boot-Kommandanten des Ersten Weltkrieges und entschiedenen Pazifisten seit
seiner KZ-Zeit in Dachau Martin Niemöller, beim Helden des Sechstage-Krieges General Rabin, der genauso zum Friedensnobelpreisträger
wurde wie der einstige Vater der sowjetischen Atombombe Andrej Sacharow.
Es gibt Wendebiografien, die sind so erschütternd wie überzeugend. Und es gibt andere, die sind geradezu schäbig.
Paulus, zunächst orthodoxer, also rechtgläubiger fundamentalistischer Jude, Eiferer für ein Judentum unter Jerusalemer Führung,
das Abweichler verfolgt. Er bewirbt sich geradezu darum, nach Damaskus zu ziehen, um Jesusanhänger ausfindig zu machen, sie
gefesselt nach Jerusalem zu schleppen, damit ihnen dort – vor dem Synedrion – der Prozess gemacht werden könne. Auf der Verfolgungs-Reise
ereilt es ihn: ein grelles Licht vom Himmel, ihn blendend. Er |189| fällt auf die Erde und hört eine Stimme: Saul, Saul, was verfolgst du mich? – Wer bist du? – Ich bin Jesus, den du verfolgst,
steh auf und geh.
Die Gefährten – erstarrt. Sie hörten die Stimme, aber sie sehen nichts. Paulus steht auf, tut seine Augen auf und »er sieht
nichts«. Der
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