Die Bibel für Eilige
Plan Gottes dienen.) Denn da kommt die Tochter des
Pharaos mit ihren Gespielinnen und entdeckt das Körbchen im Schilf. Sie lässt es holen, während die größere Schwester des
kleinen Knaben in der Nähe steht, um zu sehen, was aus ihrem kleinen Brüderchen wird. Da liegt er, ein kleiner weinender Junge.
Zum Gotterbarmen, herzerweichende Tränen. Das Jammern und Weinen rührt die Herrschertochter. Das Kind schreit nach seiner
Mutter. Es schreit nach Liebe, nach Milch, nach tröstender Wärme, nach körperlicher Nähe. Das Wimmern des verlassenen kleines
Geschöpfes jammert sie.
Hier setzt die List der Frauen ein, eine List, die der Rettung von Menschenleben dient. Die leibliche Schwester gibt sich
als zufällige Zeugin, die der Tochter Pharaos anbietet, eine hebräische Amme zu besorgen, die das Neugeborene, das Findelkind,
»für sie«, die Pharaotochter, stillen könne. |245| Die Tochter des Pharaos befiehlt ihr, zu gehen und eine Amme zu holen. Die Schwester – inkognito – bringt die leibliche Mutter,
sodass das Kind dort aufwachsen kann, wo es herkommt und wo es hingehört. Sie erhält gar noch einen Unterhalt, gewissermaßen
Kindergeld. Auf diese Weise bekommt Mose zwei Mütter, eine leibliche und eine soziale. Die Sozialisation des Mose geschieht
in einem levitischen Kontext. Und der Herangewachsene, der der Mutter Entwöhnte, kann nun zur Tochter des Pharaos gebracht
werden und »ihr zum Sohn« werden. Sie benennt ihn mit dem üblichen Namen, der ägyptisch mit »geboren, als Sohn geboren« übersetzt
werden und im Hebräischen als der »Heraus gezogene « gedeutet werden kann.
(Mose bekommt nicht einen Pharaonennamen, wie Tutmose oder Ra-mesu, – Ramses! –, sondern einfach nur: ›Geboren, als ein Sohn
geboren‹. Der Gott Ra wird nicht mehr bezeichnet, sondern nur die Tatsache des Geborenseins: Gotteskind, Geschöpf Gottes –
eines Gottes, dessen Name sich offenbart im Unterwegssein des Lebens.)
Es ist keine Selbstrettung, es ist ein Gerettetwerden. Mose hat zwei Mütter, die verschiedenen Kulturkreisen zugehören. Sie
konstituieren in Mose eine Doppelidentität. Die Tochter des Unterdrückers bringt den Befreier der Unterdrückten an den Hof,
sodass er das Ohr des Herrschers gewinnen und die Mechanismen des Herrschens durchschauen kann.
Die Akteure der Geschichte sind Frauen: die Mutter, die das Kind versteckt und dann aussetzt, die Schwester, die es nicht
aus den Augen verliert, die Tochter des Pharaos, die es sieht und Hilfe für ihren Adoptivsohn bei einer hebräischen Amme sucht.
Im Zentrum der Geschichte steht die Lebensgefahr und das Rettungskästchen – die Arche des Mose. Eine Ägypterin |246| lässt sich rühren vom Schrei eines hebräischen Kindes. Die Tochter des Pharaos durchbricht das todbringende Gebot ihres Vaters
angesichts eines Geschöpfes, das sie jammert. Sie wird zum Schutzengel des Geretteten, der später zum Retter des Volkes werden
sollte. Das zum Töten freigegebene Kind wird zum Mittler der Rettung für das unterdrückte Volk Israel. Mose kann der Befreier
werden, weil er die Gepflogenheiten des Herrschervolkes von innen her kennt und weil er sich erinnert, wohin er gehört und
woher er kommt.
Eine Frau rettet das zum Töten freigegebene Kind, indem sie nicht »kalt« bleibt, sich nicht nach politischen Notwendigkeiten
oder rechtlichen Vorschriften richtet, sondern ganz elementar menschlich reagiert – eine menschliche Regung zeigt und das
legalisierte Verbrechen nicht akzeptiert.
Sie übernimmt eigene Verantwortung für ein fremdes Kind. Sie hört einen Schrei. Und sie hört nicht nur den Schrei, sondern
sie tut das, was für das Kind jetzt gut und nötig ist.
In welche Welt wird der aus dem Wasser Gezogene hineingeboren? In eine Macht- und Unterdrückungswelt. Der Lehm, mit dem das
Körbchen von innen ausgeschmiert wurde, damit das Kindlein nicht am scharfen Geruch des Pechs ersticke, ist genau der Stoff,
der zum Symbol der Unterdrückung der Hebräer geworden war, die im Frondienst aus Lehm die Ziegel für die Landesherren brennen
mussten. Und das Schilf ist das Symbol für das spätere Hindurchziehen durch das Schilfmeer, angeführt von dem, der aus dem
Schilf gezogen wurde. In das Schilfmeer stürzt sich die Armada der Unterdrücker. In dieser »Sintflut« werden sie ersäuft.
Für die Peiniger gibt es kein Rettungsboot, keine Arche.
Das Volk zieht fortan 40 Jahre durch Wüste ins Gelobte Land.
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