Die Bibel für Eilige
Vorgezeichnet ist ein sich in vielen Variationen wiederholendes
Motiv: tödliche Bedrohung und immer wieder erfahrene Rettung.
In der Fassung des Jerusalemer Talmuds heißt es: »Jedem, |247| der ein Menschenleben rettet, rechnet es die Schrift an, als hätte er [oder eben: sie!] eine ganze Welt gerettet.« In dieser
Rettungsgeschichte sind die Frauen die Subjekte: die Mutter, die Schwester und die Tochter des Pharaos.
Die Rettungsgeschichte kulminiert in einem Kinderschrei:
Der Schrei
Ein Mensch wird geboren, und sofort
schreit er.
Keiner versteht ihn, doch alle
freuen sich.
Da bin ich! Schreit der Mensch,
da, um zu leben.
Bin ich hier richtig?
Geboren bei
guten Menschen?
In einem gesitteten Jahrhundert?
Wird nicht zufällig Krieg geführt?
Ist die Sklaverei hier abgeschafft?
Habe ich die richtige Haut-
farbe?
Die richtige Abstammung?
Darf ich atmen?
Dann besten Dank. 16
Den anderen die Füße waschen
Johannes 13,1–15
Lieber Petrus,
ich habe den Bericht des Johannes von der Fußwaschung gelesen, ihn wieder und wieder gelesen und bedacht. Aus dem Abstand
von fast 2000 Jahren gehe ich dieser bewegenden Szene nach, als ob sie gestern geschehen wäre. Da Jesus |248| Dir ankündigte, Du würdest später verstehen, was hier mit Dir, mit Euch (ja wohl für uns alle!) geschehen ist, will ich mich
als ein Dolmetscher versuchen. Du wirst das Ganze vielleicht noch ganz anders verstehen. Lass mich das bitte wissen. Mich
drängt es, Dir zu schreiben, wie
ich
es sehe. Ich finde es einfach umwerfend, ja, verzeih das pathetische Wort: revolutionär.
Du warst unmittelbar beteiligt. Ich sehe das Ganze aus einer gewissen Distanz; aber ich kann mich ganz gut hineinversetzen.
Ob ich besser verstehe als Du, möchte ich offen lassen. Zunächst einmal möchte ich Dir sagen, wie ich Jesus bewundere. Er
weiß, dass seine Stunde geschlagen hat, dass es kein Zurück gibt – und er weiß, dass er nicht ins Bodenlose fällt, sondern
ins Vaterhaus einkehrt.
Grundvertrauen: Das Vertrauen hat einen Grund, auch angesichts des Todesdunkels. Und doch: Die anderen zurückzulassen ist
schwer, so man liebt und geliebt wird in dieser rauen Welt. Es geht aufs Letzte. Da geht es aufs Ganze. Vor dem Abschied,
dem Ende gemeinsamer Zeit – ein Merkzeichen für alle Zeit. So verstehe ich diese Geschichte.
Keine bloße symbolische oder gar rituell-liturgische Handlung, kein »Tun als ob«, sondern zwölfmaliges Füßewaschen. Das Bücken,
der Geruch, der Schweiß, der Schmutz, die verletzte Fußsohle, die gerissene Haut der Füße, die sie getragen haben durch die
Mühen der Ebenen und getragen haben auf den Berg der Hoffnung: Jerusalem zur Festzeit. Bevor Jesus abschließende Worte sagte
– Abschiedsreden nennen wir das, was Johannes da aufgeschrieben hat –, bückt er sich. Eine Wohltat für die Gewaschenen, eine
Sklavenarbeit für Jesus. (Wo die anderen Evangelisten von einem abschließenden Abendmahl mit seinen schwergewichtigen und
so vielbedeutsamen Deuteworten berichten, erzählt Johannes von einem praktischen Liebesbeweis. |249| Es beginnt auch mit einem Abendessen, in dessen Verlauf er das Ungewöhnlich-Unerwartete tut.) Ich finde, lieber Petrus: Das
sagt mehr als alles Reden es vermag. Diese Szenerie prägt sich mir so ein wie die Szene mit der Ehebrecherin. Diese Szene
macht die ganze Absicht Jesu, sein ganzes Dasein augenfällig, sinnlich fassbar, ich könnte auch sagen: sozial erlebbar. Unten,
»ganz unten« erfüllt sich, was »ganz oben« beabsichtigt ist. Umkehrung der Herren-Diener-Ordnung, aber nicht bloß, um das
Unterste zuoberst zu bringen und nicht, um erneut eine Rangordnung zu installieren, sondern um das Herr-Diener-Verhältnis
prinzipiell zu durchbrechen. Nicht aus übergeordneten ideologischen Gründen geschieht dies, sondern aus Liebe. Diese neue
Erkenntnis, diese Umwertung kommt nicht über den Kopf, sondern über die Füße. Aber ich sehe auch, dass dies keineswegs eine
Idylle ist, keineswegs ist alles »ein Herz und eine Seele«. Denn einer ist für Geld bereit aufzugeben, was er an Lebensqualität
in einer gelingenden Gemeinschaft erfahren hatte. Einer verrät ihn – verrät sich selber und die anderen. Sein Name wurde später
so verachtet, wie Dein Name, Petrus, erhoben wurde. Du bist ja bald eine »Überperson« geworden. Man nannte Dich bald den Ersten
unter Gleichen – mit allen Spätfolgen in einer hierarchischen Kirche. Und Du warst
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