Die Bibel für Eilige
dieses ungreifbaren Gottes zusprechen! Gott sei Dank für seine Ungreifbarkeit.
|235| »Kommet her zu mir alle«
(Matthäus 11,28)
In einer Nische der Gertraudenkapelle in Güstrow sitzt der »lehrende Christus«, eine Holzplastik von Ernst Barlach. Weites
Gewand. Die Arme ruhen auf den Oberschenkeln. Beide Hände weit geöffnet, zum Empfangen, zum Austeilen. Eine darlegende, eine
offen-legende Geste. Nichts von oben herab Forderndes oder Gebietendes. Der lehrende Christus. In sich ruhend und Ruhe ausstrahlend
die ganze Person, beinahe wie eine Buddhafigur, aber nicht selig-bedürfnislos in sich versunken, sondern weit-sehend und den
Näherkommenden einladend zum Gespräch, wohl auch in die Fülle des Schweigens …
Eine »Kommt, es ist alles bereit«-Geste.
Schmeckt und seht, wie freundlich Gott ist.
Und es gibt nur ein Stück Brot und einen Schluck Wein.
Was ist dieser Bissen schon?
Brot ist doch sonst nur meine Unterlage.
Nun schmecke ich diesen Bissen, zusammen mit Wort und Geste.
Brot ist Leben. Ohne Brot: Tod. Leben ist Hingabe für Leben.
Dieser Bissen erinnert mich an meine Bedürftigkeit.
Ich genieße ihn. Ich kaue, bis er ganz süß wird.
Und er erinnert mich an meine Unersättlichkeit, an meine Gefahr, das Viele zu verschwenden, statt das Wenige zu genießen.
Er erinnert mich an den Hunger, den ich zufällig nicht teile, aber in einer Welt lebe, die bisher nicht fähig ist zu teilen.
Im Empfangen, Teilen, Weitergeben des Wenigen, das alles sein kann,
|236| weil’s für alle ist, komme ich auch der Stimme der Verführbarkeit auf die Spur, die mir immer wieder einflüstert, dass die
Fülle der Güter die Fülle des Lebens sei.
So kann dieser Bissen zum Bissen meiner Wandlung werden.
Nimm Brot. Nimm Leben.
Gib Leben, gib Brot weiter.
Dieses Kleine, Wenige, Winzige kann alles sein –
Fülle des Lebens – mehr haben, als wir je »haben« können!
Was bin ich schon Großes, was habe ich schon aufzuweisen?
Sehe ich ehrlich auf mich, wie traurig, wie mutlos,
ohnmächtig, auch verbittert ich bin,
einsam, unverstanden, verletzt. Und doch wieder
fröhlich, zuversichtlich, gelassen,
verwundert – aus lauter Gnade, denke ich.
Ich habe nur Worte, höre nur Worte, Schall und Rauch, so schön wie vergänglich, missverstanden und missbraucht die größten
Worte:
Gott und Heil, Wahrheit und Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit.
Und doch: Sie richten mich auf, trösten mich, geben mir Atem.
Ich brauche den Zuspruch der Worte.
Frieden! – denke ich. Im äußeren Frieden lebe ich; er ist nicht alles. Aber ohne ihn ist alles nichts.
Alles ist er, wo er mich in meiner Tiefe erreicht.
Christus ist mein Friede. Frieden heilt mich Zerrissenen.
Und will sich ausbreiten
unter
uns und
durch
uns.
So haben wir nichts. Und haben doch mehr als wir je haben können.
|237| Geduld und Barmherzigkeit
»Der Herr ist geduldig und von großer Barmherzigkeit und vergibt Missetat und Übertretung.«
(4. Mose 14,19)
Geduld und Barmherzigkeit, nicht Schnellurteil und Strafe, Versöhnung und nicht Vergeltung, Vergebung und nicht Rache, Mitempfinden
und nicht Gefühlskälte, Einfühlung und nicht Distanz sind Kennzeichen des christlichen Gottes. Um dies zu zeigen, musste Gott
Mensch werden, sich zeigen als der sanftmütige, friedfertige und barmherzige Mensch schlechthin, der lebte, was er sagte,
und der auslegte, was er tat. Ein Beispiel hat er uns gegeben. Den autoritären Herr-Gott löst er ab durch den mitverstehenden
Vater-Gott, einen Gott, der wesentlich etwas »Mütterliches« hat.
Wie Gott mir, so ich dir! Es ist Mangel an Gottvertrauen, Mangel an Dankbarkeit für Empfangenes, wenn wir nicht vergeben,
nicht Geduld haben miteinander, uns unbarmherzig zeigen. Gerade in einer Zeit der Vergangenheitsabrechnung und der rückwärts
gewandten Schuldzuweisung, aber auch einer Zeit der neuen großen Fehler, Versäumnisse, Irrtümer und Fehl-Tritte kommen wir
miteinander weiter, wenn wir nicht immerfort mit anderen oder bei anderen »aufräu men «, sondern jedem die faire Chance lassen und geben, zurückzukehren in die Gemeinschaft. Freilich gibt es dafür eine einzige
unabdingbare Voraussetzung: das Ein-Sehen in Misse-Tat, z. B. die Verletzung von Menschen-Rechten.
Wer, wenn nicht die Christen, sollten Anwälte der Barmherzigkeit, Geduld und Vergebung Gottes in unserer Abrechnungskultur
sein. Der Verzicht auf Auf- und Abrechnen kommt schließlich auch immer
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