Die Bibel
verbrannt wurde.
Was damals wirklich geschah in Ägypten, und danach in der Wüste, wissen wir nicht. Außerbiblische Quellen schweigen über die realen Begebenheiten des jüdischen Gründungsmythos. Sehr wahrscheinlich war der wirkliche Exodus weitaus weniger spektakulär, als in der Bibel geschildert. Sehr wahrscheinlich ist die Geschichte von Generation zu Generation immer mehr ausgeschmückt worden, denn nur wer gar keine Phantasie hat, erzählt eine Geschichte so, wie sie wirklich war.
Dass sechshunderttausend Männer mit ihren Frauen und Kindern samt Viehherden aus Ägypten geflohen sind, also über eine Million Menschen mit Unmengen Rindern, Schafen und Ziegen, erscheint äußerst unwahrscheinlich, denn ein Ereignis solcher Größenordnung hätte sich in der ägyptischen Geschichtsschreibungzumindest in ein paar Sätzen niederschlagen müssen. Hat es aber nicht. Von einem Auszug Israels aus Ägypten ist den Ägyptern nichts bekannt.
Wahrscheinlich war es also eine wesentlich kleinere Gruppe, die geflohen und vor ihren Verfolgern auf wundersame Weise gerettet worden ist. Vielleicht haben die Verfolger das Vorkommnis einfach nicht gemeldet, um der Strafe zu entgehen. Vielleicht haben sie es gemeldet, und der Chronist hielt das Ereignis für nicht wichtig genug, um es aufzuschreiben. Lokale Querelen in der Provinz, mag er sich gedacht haben.
Lokale Querelen in der Provinz? Die ägyptischen Subalternen konnten weder wissen noch ahnen, dass es sich bei diesen Provinzquerelen um ein weltgeschichtliches Ereignis handelte.
Gott hatte sich ein Volk erwählt, und damit hat ein Aufruhr begonnen, der den weiteren Verlauf der Weltgeschichte im Guten wie im Bösen in vielfältiger Weise entscheidend beeinflusste. Monotheismus, erste Aufklärung, erste Blasphemien, Provokation der Mächtigen durch die Schwachen, Beschreibung der Welt aus der Sicht von Außenseitern, erster Sklavenaufstand der Weltgeschichte, Sieg der Sklavenmoral über die Herrenmoral – das sind die Begriffe, die sich heute, drei Jahrtausende später, mit diesem Ereignis verbinden.
Gott hatte sich ein Volk erwählt. Er hätte die Wahl gehabt unter lauter tüchtigen Völkern. Die Ägypter hätte er nehmen können, die Babylonier, Phönizier, Hethiter, Perser, Griechen oder Römer. Und wen hat er sich ausgesucht? Eine Hand voll unbedeutender Nomadenstämme, die viel zu spät die über die Welt hereingebrochene Zeitenwende mitbekommen hatten. Die Fortschrittlichen hatten längst aufgehört mit dem Umherziehen, hatten das Land unter sich aufgeteilt, sich darauf niedergelassen, es bebaut, und waren zu Wohlstand gekommen, mächtig geworden, auch kultiviert, gebildet, überlegen.
Die anderen, die zu spät merkten, wohin die Reise ging, hattendas Nachsehen – auf ihre Weise Globalisierungsverlierer. Das fruchtbare Land war verteilt. Für sie blieb nur, was die Cleveren übrig gelassen hatten. Wertloses Land. Da konnte man nicht lange weiden, war gezwungen, weiterzuziehen, mal hierhin, mal dorthin. Man war zu Mobilität und Flexibilität verdammt.
Einige versuchten, in die fruchtbaren Zonen des Wohlstands einzusickern. Manchmal wurden sie geduldet, bekamen Asyl, aber meistens wurden sie vertrieben oder gleich von den Grenzposten abgewiesen. Oder die reichen Völker haben sie, wie in Ägypten, zur Fronarbeit herangezogen. Diese Fronarbeiter- und Steineklopfer-Klasse, Habiru genannt, diese in Ägypten bunt zusammengewürfelte Internationale, hatte eines Tages das Trennende zwischen ihnen als zweitrangig erkannt und das Gemeinsame als wichtiger: ihre Fremdbestimmung, ihre Unfreiheit, den gemeinsamen Unterdrücker.
Als die Unterschiede ihrer Herkunft, ihres Alters, ihres Geschlechts und ihrer kulturellen Prägungen nur noch eine Nebenrolle spielten, konnten sie gemeinsam und organisiert handeln, und das taten sie dann auch. Sie fassten sich ein Herz und brachen aus, flohen vor den Ägyptern ans Schilfmeer, wo sie auf wundersame Weise gerettet wurden, in die Wüste entkamen, dort zusammenblieben und sich eine gemeinsame bessere Zukunft erträumten.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – diese Begriffe existierten noch nicht, aber die Sache, die sie bezeichnen, die hatte hier, am Schilfmeer und in der Wüste, ihren Anfang. Dort wurde der bunte Steineklopfer-Haufen zu einem Volk, das sich in bemerkenswerter Weise von allen anderen damaligen Völkern unterschied. Dort entstand eine Religion, die sich grundlegend von den damals herrschenden Religionen
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