Die Bibliothek der Schatten Roman
zu.
»Ihr seid ja da, um auf mich aufzupassen«, erwiderte er.
»Ja, draußen«, sagte Iversen. »Ich wäre mir nicht so sicher, ob wir darauf zählen können, dass er nicht einfach auf die gute altmodische, körperliche Gewalt zurückgreift. Was sollte ihn davon abhalten, eine Waffe bei sich zu tragen?«
Jon betrachtete den sonst so heiteren und aufgeräumten Mann. Er ließ die Schultern hängen und hob die Handflächen in einer mutlosen Geste. Natürlich hatte Iversen Recht, aber die bisherige Vorgehensweise der Schattenorganisation ließ nicht unbedingt darauf schließen, dass sie zu konventionellen Waffen greifen würden. Jon heftete den Blick auf den neuen Teppich. Im Grunde genommen wussten sie nicht einmal das. Vielleicht war ja bereits physische Gewalt angewendet worden. Jon und die anderen hatten sich nur auf die Vorfälle konzentriert, bei denen möglicherweise Lettore-Fähigkeiten im Spiel gewesen waren. Sie waren davon ausgegangen, dass es sich um eine Abrechnung zwischen Gentlemen handelte, bei der Fähigkeit gegen Fähigkeit eingesetzt wurde. Aber warum sollte die Schattenorganisation sich an diese Grenze halten?
»Ich bin da ja nicht allein, es wird Zeugen geben«, sagte Jon. »Ich glaube nicht, dass Remer das Risiko eingeht.«
Iversen nickte, wirkte aber nicht sehr überzeugt.
Es waren vier Gäste in der Kneipe. Sie saßen an der Bar und drehten sich nicht einmal um, als Jon die Tür aufstieß. Er bestellte ein Bier vom Fass und setzte sich an einen Tisch weit weg vom Tresen, von dem er die Tür im Blick hatte. In seiner Innentasche steckte das Handy, das er sich von Henning geliehen hatte. Das Mikrofon der Freisprechanlage steckte an der Innenseite des Jackenkragens, damit Katherina und Henning draußen mitbekamen, was drinnen vor sich ging.
Jon nahm einen Schluck Bier. Er war früh dran. Wenn Remer den Köder geschluckt hatte, müsste er in zehn Minuten eintreffen. Zeit genug für Jon, sich darüber Gedanken zu machen, wie er vorgehen wollte. Remer musste erst einmal kommen und dann wieder abfahren, damit die anderen ihn beschatten konnten. Über das Treffen an sich hatte Jon sich nicht allzu viele Gedanken gemacht, er wusste weder, was er sagen sollte, noch, ob er seine Wut über die Rolle beherrschen konnte, die Remer bei seiner Entlassung und womöglich an Lucas Tod gespielt hatte.
Die Tür ging auf, und ein Mann in einem hellen Trenchcoat betrat das Lokal. Jon erkannte Remer sofort an seinem Kurzhaarschnitt wieder. Er sah sich im Lokal um, und sein Blick blieb einen Moment an Jons hängen. Dann ging er an die Bar und bestellte etwas, während er kühl die Stammgäste musterte. Jon nutzte die Gelegenheit zu einem Griff in die Tasche, um die Wahltaste zu drücken.
Der Barkeeper stellte ein Glas mit einer goldenen Flüssigkeit vor Remer. Der bezahlte, nahm das Glas und schlenderte seelenruhig zu Jons Tisch. Jons Herz schlug schneller, und er spürte die Wut in sich aufsteigen.
»Campelli«, sagte Remer, nickte Jon zu und drehte den Stuhl so, dass er mit dem Profil zur Tür saß.
»Remer«, erwiderte Jon den Gruß.
Remer betrachtete ihn, während er an seinem Glas nippte. Er verzog das Gesicht und warf einen enttäuschten Blick auf
das Getränk, das in leicht kreisenden Bewegungen im Glas schwang.
»Nicht gerade Qualitätswhisky«, bemerkte er und stellte das Glas auf den Tisch. »Ich bin mehr für Singlemalts, nicht für solche Panschereien.«
»Dann hätten Sie sich lieber an die Spezialität des Hauses halten sollen«, sagte Jon, hob sein Bierglas und trank einen Schluck.
Remer deutete ein Lächeln an.
»Ich beginne zu verstehen, wieso Sie sich nun doch entschieden haben, Buchhändler zu werden«, meinte er in einem Tonfall, der wohl signalisieren sollte, dass das Gespräch ihn bereits zu langweilen begann.
»Man könnte durchaus sagen, dass ich diese Richtung nicht ganz freiwillig eingeschlagen habe«, antwortete Jon trocken. »Aber ich habe scheinbar ein angeborenes Gespür dafür. Meine Fähigkeiten in dieser Richtung haben sich als außergewöhnlich erwiesen.«
Remer nickte und musterte Jon ausgiebig.
»Ich habe davon gehört«, sagte er. »Ein Mann mit einem solchen Talent sollte sich vielleicht nicht auf einen Buchladen beschränken.«
Jon versuchte, seine Überraschung so gut wie möglich zu verbergen. Woher wusste Remer, dass Jon aktiviert war und wie es gelaufen war? Bluffte er?
Auf Remers Gesicht breitete sich ein überlegenes Lächeln aus.
»Solche Kapazitäten
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