Die Bibliothek der Schatten Roman
sollten lieber in größeren Zusammenhängen genutzt werden«, fügte Remer hinzu.
»Zum Beispiel in einer Unternehmenskette?«, fragte Jon.
»Zum Beispiel«, sagte Remer, nahm einen Schluck Whisky und würgte ihn mit zusammengepressten Lippen herunter. »Solche Fähigkeiten lassen sich vielseitig einsetzen.«
»Als Berater?«
»Problemlöser.«
»Das wird dann aber teuer«, antwortete Jon.
»Alles ist relativ«, gab Remer zu bedenken. »Wer sein Geld wert ist, ist nicht teuer. Aber das setzt natürlich voraus, dass man erst einmal beweist, wie talentiert man tatsächlich ist.«
»Ein Test?«
»Sagen wir eher, eine Untersuchung«, meinte Remer. »Wie der Zufall es will, habe ich Zugang zu einer Einrichtung, in der sich diese Fähigkeiten messen lassen.«
»Mir war nicht klar, dass sich so etwas messen lässt«, sagte Jon.
Remer lächelte geheimnisvoll.
»Aber ja, sicher doch. Wenn man die besten Resultate erreichen will, muss man heutzutage wissenschaftlich vorgehen. Genau wie seriöse Sportler. Leistungssport ist nichts für Leute mit romantischen Vorstellungen von Joggingtouren in schöner Natur, gesunder Ernährung und reichlich Nachtschlaf. Im Leistungssport dreht sich alles um Optimierung und volles Ausschöpfen der Potenziale und noch etwas mehr.«
»Und einige Menschen werden mit einem größeren Potenzial geboren als andere.«
»Ganz genau«, sagte Remer energisch und tippte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. »Und diese wenigen sind verpflichtet, ihr Potenzial voll auszuschöpfen, statt es an irgendwelchen Unsinn und Nichtigkeiten zu verpulvern.«
»Ein schönes Leseerlebnis hervorzurufen, vielleicht?«, schob Jon ein.
»Zum Beispiel«, stimmte Remer ihm eifrig zu. »Literatur wird heutzutage romantisch verklärt. Lesen ist so eine Art distinguierter Zeitvertreib für Intellektuelle geworden. Dabei ist es im besten Fall nichts weiter als die Vermittlung von Informationen, Unterhaltung und vor allem die Weitergabe von Wissen, Einstellungen und Meinungen.«
»Das klingt in meinen Ohren reichlich zynisch«, sagte Jon. »Viele Menschen lesen gerne.«
»Und viele Menschen widmen ihr Leben dem Sport, weil es ihnen Spaß macht«, erwiderte Remer. »Aber sie sind und bleiben Amateure. Wer Leistung bringen will, braucht eine professionelle Einstellung zu den Instrumenten, die ihm zur Verfügung stehen.«
Sie tranken beide einen Schluck.
»Also, Jon?«, sagte Remer nach einer kurzen Pause. »Wollen Sie Amateur bleiben oder Profi werden?«
Jon beobachtete die Blasen, die in seinem Glas nach oben stiegen. Irgendwo hatte er mal gehört, dass Bier in dreckigen Gläsern mehr perlt als in sauberen. Das verhieß nichts Gutes, was die Reinlichkeit des Lokals betraf. Andererseits war das den professionellen Gästen, die an der Bar saßen, vermutlich ziemlich egal. Das Gespräch verlief anders, als Jon erwartet hatte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er selbst das Verhandlungsobjekt sein würde und nicht das Libri di Luca. Allerdings bedeutete dieser Umstand sicher auch, dass er nicht unmittelbar in Lebensgefahr schwebte, solange er Remers Vorschlag nicht rundweg ablehnte.
»Sie müssen mir nicht gleich antworten«, sagte Remer. »Denken Sie darüber nach, wenn Sie etwas Zeit haben.« Sein Blick wanderte von Jons Gesicht zu dessen Jacke, in deren Innentasche das Handy steckte. »Aber Sie sollten wissen, dass wir Antworten auf viele Ihrer Fragen haben und uns Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die Ihnen helfen können, Ihr Potenzial voll auszuschöpfen. Bei uns haben Sie die Gewissheit und die Möglichkeit, Ihre Fähigkeiten für etwas Reelles einzusetzen.«
Jon nickte.
»Ich glaube, ich brauche etwas Bedenkzeit«, meinte er.
»Selbstverständlich«, sagte Remer. »Aber warten Sie nicht zu lange. Wir werden leicht ungeduldig.«
Remer stürzte den Rest Whisky herunter und stand auf.
»Sagen wir, in drei Tagen?«
Jon zuckte mit den Schultern.
»Einverstanden. Sie hören im Laufe der nächsten drei Tage von mir.«
»Ausgezeichnet«, sagte Remer zufrieden. »Bis bald, Jon.«
Er wartete nicht auf die Antwort, sondern war bereits auf dem Weg hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
Jon zog den Kragen vom Hals weg und neigte den Kopf.
»Er ist jetzt draußen«, sagte er in das Mikrofon.
»Wir sehen ihn«, kam Katherinas Stimme vom anderen Ende. Im Hintergrund tönte Motorenlärm. »Ich melde mich, sobald wir wissen, wohin er unterwegs ist.«
Jon unterbrach die Verbindung und legte das
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