Die Bibliothek der Schatten Roman
rechnete schon eine Weile damit, dass irgendwann die Verbindung zu ihm hergestellt würde. Und dass Remer sie nutzen würde, um Jon auf seine Seite zu ziehen.
»Wollen Sie damit sagen, dass meine Familie auch in Demetrius’ Sekte war?«
»Die Chancen stehen gut«, bestätigte Remer. »Es gibt keine vollständigen Stammbäume oder Mitgliedslisten mehr, aber es deutet etliches darauf hin, dass die Gruppen organisierter Lettori, die es überall auf der Welt gibt, allesamt von dem ursprünglichen Orden abstammen, der vor fast 2400 Jahren hier in Alexandria gegründet wurde.«
»Und was ist schiefgegangen?«, fragte Jon. »Warum haben Sie noch nicht die Weltherrschaft übernommen?«
Remer schnitt eine Grimasse.
»Aus vielerlei Gründen«, antwortete er. »Die zunehmende Dezentralisierung schwächte die Organisation. Es bildeten sich Fraktionen, die andere Ziele verfolgten, und die unterschiedlichen Ausrichtungen verschwendeten eine Menge Energie damit, sich gegenseitig zu bekriegen. Außerdem war es eine ganze Weile regelrecht lebensgefährlich, gelehrt zu sein. Gelehrte wurden schlichtweg als Hexen oder Zauberer betrachtet und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Daher war es wichtig, sich bedeckt zu halten, was das Finden und Anwerben unserer Mitglieder nicht gerade vereinfachte.« Remer stand auf und streckte die Beine. »Erst während der Renaissance erwachte die Organisation zu neuem Leben, aber es sollten noch etliche Jahre vergehen, bis das verlorene Wissen wieder zusammengetragen war.«
Obgleich Jon sich in Gesellschaft seines ärgsten Feindes befand, fesselte ihn die Geschichte. Es wunderte ihn nur, dass die Mitglieder der Bibliophilen Gesellschaft daheim ihm nichts von ihren Wurzeln erzählt hatten. Vielleicht wussten sie ja nichts davon, oder sie wollten ihren Ursprung vor ihm geheim halten, bis er reif für die Wahrheit war.
»Die Renaissance liegt schon weit zurück«, sagte Jon. »Wieso hat die Organisation in der Zwischenzeit nicht die Weltherrschaft übernommen?«
»Wer sagt, dass wir das nicht getan haben?«, fragte Remer mit verschmitztem Lächeln. »Nein, Sie haben natürlich
Recht. Wir haben erst in den letzten Jahrzehnten das notwendige Instrumentarium dafür bekommen.« Er schwieg.
Jon hob die Augenbrauen.
»Erwarten Sie nicht von mir, dass ich es errate.«
Remer lachte.
»Demokratie. Das war es, was uns die ganze Zeit gefehlt hatte.«
»Demokratie?«, wiederholte Jon verdutzt.
»Demokratie ist das Beste, was dem Orden je widerfahren ist.« Er hob die Hände. »Keine Frage, die Monarchie barg auch eine Menge Möglichkeiten, aber sie war viel zu unsicher. Zum einen war es schwierig, unsere Leute dicht am Machtzentrum zu platzieren, zum anderen schwebten sie immer in großer Gefahr, sobald die Macht wechselte. Häufig fielen ihre Köpfe zusammen mit dem des Königs. Nein, die Demokratie ist die ideale Staatsform.« Remer hielt einen Zeigefinger hoch. »In einer Demokratie ist es relativ einfach, in den Dunstkreis der Machthaber zu gelangen, und es ist viel effektiver, wenn alle glauben, sie wären an den Entscheidungen beteiligt. In Wirklichkeit glauben sie nur, was wir sie glauben lassen. Und obendrein behalten die meisten unserer Leute nach einem Regierungswechsel ihre Stellen.«
»Beamte?«, fragte Jon.
Remer nickte.
»Unter anderem. Vergessen Sie nicht, dass wir nur in der Nähe sein müssen, wenn diejenigen, die wir beeinflussen wollen, lesen. Sie umgeben sich mit Sekretären, Assistenten und Juristen. Selbst Kantinen- und Reinigungspersonal und Lieferanten sind nützlich.«
»Das würde erklären, wieso kein Unterschied zwischen den verschiedenen Regierungen zu bemerken ist«, kommentierte Jon trocken.
»Wir betreiben keine Politik«, sagte Remer. »Verstehen Sie das nicht falsch. Wir sorgen bloß für die optimalen Bedingungen
für unsere Organisation, und das an so vielen Orten auf der Welt wie möglich.«
»Sie haben mir immer noch nicht beantwortet, wieso wir in Alexandria sind«, erinnerte Jon ihn. »Wenn die Organisation über den gesamten Erdball verteilt ist und es kein Zentrum mehr gibt, wieso dann ausgerechnet Alexandria?«
»Es stimmt zwar, dass die ursprüngliche Bibliotheca Alexandrina nicht mehr existiert«, sagte Remer. »Aber wir haben eine neue gebaut.«
»Wir?«, fragte Jon überrascht.
Remer lächelte geheimnisvoll.
»Die ägyptische Regierung hat in Zusammenarbeit mit der UNESCO an der gleichen Stelle eine neue prunkvolle Bibliothek errichtet, oder
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