Die Bibliothek der Schatten Roman
ich Ihnen nicht die Hand gebe«, sagte Jon mit einem Bick auf die Riemen. Der kleine Mann strahlte etwas Beunruhigendes aus, aber Jons Erleichterung darüber, dass es nicht Katherina war, war so groß, dass er allmählich wieder Mut fasste.
»Machen Sie sich keine Gedanken«, erwiderte der Mann
und legte den Koffer auf dem Fußende des Bettes ab. Er öffnete ihn und nahm etwas heraus, das er Remer reichte. »Ich denke, wir sollten so schnell wie möglich beginnen.«
Remer trat ans Kopfende und hielt Jon eine Rolle graues Klebeband vor die Nase.
Er riss ein Stück ab und klebte Jon damit den Mund zu. Jon sah ihn hasserfüllt an, aber Remer ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen.
»Sie lassen uns jetzt besser allein«, sagte der Mann zu Remer, der widerspruchslos den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss.
Jon konnte nicht sehen, was sich in dem Koffer befand, aber er stellte sich die grausamsten Folterinstrumente vor. Merkwürdigerweise fühlte er sich erleichtert. Der Gedanke, Katherina könnte einer ähnlichen Behandlung ausgesetzt werden, war viel unerträglicher, als sie jetzt selbst über sich ergehen zu lassen.
Doch als er dann sah, was der Mann mit dem Kassengestell mit größter Behutsamkeit aus dem Koffer nahm, bekam er Panik.
Es war ein Buch.
DREIUNDDREISSIG
A ls Katherina von Jons Reise hörte, war sie erst einmal erleichtert, weil das zumindest bedeutete, dass er am Leben war. Gleich darauf überwältigte sie jedoch die Mutlosigkeit. Der Abstand zwischen ihr und Jon war auf Muhammeds Bildschirm als lange blaue Linie von Dänemark nach Ägypten dargestellt, und die Distanz erschien ihr unüberbrückbar. Sie hatte keine Ahnung, wie sie dorthin gelangen und ihn in einem Land dieser Größe finden sollte. Verzweifelt brach sie zusammen.
Muhammed reagierte verständnisvoll. Er geleitete sie behutsam zum Sofa, wo er sich neben sie setzte und ihr den Arm um die Schulter legte. Zu keinem Zeitpunkt fragte er nach dem Grund von Jons Reise oder ihrer Reaktion. Er ließ sie sich einfach ausweinen.
Als Katherina sich endlich fasste, dankte sie ihm mehrmals und versprach ihm, ihm irgendwann einmal die ganze Geschichte zu erzählen. Muhammed bot ihr daraufhin noch einmal seine Hilfe an, wofür auch immer. Katherina wusste nur zu gut, dass sie darauf schon bald wieder zurückgreifen würde.
Es gab vermutlich noch viele Fragen, die sie Muhammed hätte stellen können, aber sie wollte nicht länger passiv bleiben. Sie hatte bereits zwei Tage verschlafen und wäre am liebsten direkt zum Flughafen gefahren, um mit der nächsten Maschine nach Ägypten zu fliegen. Doch als sie Muhammed verließ und wieder auf ihrem Fahrrad saß, besann sie sich und fuhr stattdessen so schnell wie möglich ins Libri di Luca.
Henning stand hinter der Kasse, was sie überraschte, bis sie sich erinnerte, dass die beiden sich ja mit der Überwachung von Remers Haus abwechseln wollten.
»Ihr könnt die Suche einstellen«, sagte Katherina, als sie in den Laden kam. »Ich weiß, wo er ist.«
Henning starrte sie verblüfft an. »Katherina … Solltest du nicht …« Er zeigte auf die Fenster. »Bist du in Ordnung?«
»Es geht mir gut«, log Katherina. Sie hatte nicht die Geduld, sich Fragen nach ihrer Gesundheit oder ihrem Gemütszustand anzuhören. »Du kannst die anderen zurückrufen. Jon ist nicht mehr in Dänemark. Er ist in Ägypten.«
Henning sah sie gleichermaßen verwirrt und besorgt an. Er wollte etwas erwidern, aber Katherina kam ihm zuvor.
»Ich weiß nicht, warum. Ich weiß bloß, dass er vor 24 Stunden dorthin geflogen ist.«
Henning nickte und war so klug, den Mund zu halten. Als er sich einigermaßen gesammelt hatte, griff er zum Telefon und rief Iversen an. Zahlreiche Anrufe später hatte der Rundruf alle erreicht, die an der Suche beteiligt waren.
In der Zwischenzeit suchte Katherina einen großen Atlas heraus, legte ihn auf den Kassentisch und schlug Nordafrika auf. Ihre Augen huschten über die Detailkarte, über Flüsse und Städte bis zu den weiten Wüstenebenen. Als Kind hatte sie oft in Atlanten geblättert und sich dabei manchmal vorgestellt, Gott zu sein, der sein eigenes Werk betrachtete. Wenn sie dann die Augen zusammenkniff, glaubte sie sogar die Menschen erkennen zu können, die dort unten umherirrten. Jetzt wünschte sie sich, in den Sand Ägyptens greifen und Jon mit den Fingerspitzen herausheben zu können, um ihn nach Hause zu holen.
Iversen kam als Erster im Libri di Luca an, und
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